Würd‘ ich springen?

Draußen stürmt es, es ist nass und kalt – doch ich stehe auf einem Sprungbrett, unter mir ein tiefes, menschenleeres Becken, die Sonne scheint. Es ist warm. Ich habe einen klaren Blick auf das Wasser. Ein Schritt, ich falle, fliege, bin frei. Doch hoffentlich verliere ich meine Brille nicht, knalle nicht zu hart auf.

Während sich meine Zehen um die Kante des Sprungbretts krallen, mischt sich alles zusammen. Freude, Neugier, Abenteuerlust, Panik, und die Frage, ob die Leiter runter zu krabbeln, nicht ebenso elegant ist, wenn eh niemand da ist und hinguckt.

Mein Sprungbrett: mein erster Text für dreifach glauben. Spontan hat es sich ergeben in den letzten Tagen durch kollegial-freundschaftliche Gespräche. Seit Jahren habe ich keinen theologischen Text mehr geschrieben. Die Rolle des Theologen ist mir nicht unbedingt fremd – nehme sie doch lieber als Geheimagent war. Das kann ich gut, da bin ich stark.

Würd‘ ich spingen, wenn es so stürmt wie heute? Wenn ich mich da unten nicht auf den Sprung konzentrieren könnte, sondern vor öffentlichem Puplikum springen sollte? – Fragen, die ich mir stelle, und doch feststellen muss: Sie sind Teil des alltäglichen Was-wäre-wenn-und-überhaupt-Spiels, das wir uns antrainiert haben. Sinn und Zweck? Nicht vorhanden, denn es geht um die Fragen: Springst du? Bist du da? Hast du Mut? Vertrauen? Und dies lange nicht nur in den großen Fragen deines Lebens.

Mein erster Text in online. Bin wohl doch gesprungen. Und es tat gut! – Welcher Sprung steht dir heute bevor?

90er-Würde

Samstagabend. Großraumdisko in einer deutschen Kleinstadt. 90er-Party, man wird ja wohl noch feiern dürfen. Es fühlt sich alles ein bisschen nach der guten alten Abizeit an. Zumindest so lange ich mich voll und ganz auf das Bier in meiner Hand und auf meine Freund*innen konzentriere. Irgendwann lasse ich den Blick wandern. Und erschrecke ganz gehörig – so hatte ich das noch nie bewusst erlebt, so noch nie wahrgenommen (manche werden sich zugegebenermaßen berechtigt fragen, in welcher Filterblase ich die letzten Jahre meines Lebens verbracht habe…):

Ein Teil der Gäste steht am Rand, hält sich an einem Drink fest, steckt die Köpfe zusammen, begutachtet und beurteilt das, was von dem anderen Teil auf der Tanzfläche feilgeboten wird: Körperteile, Kleider und Bewegungen. Krass. Wir sind ungefragt im zweiten Teil mitinbegriffen, und ich spüre immer wieder einen Blick im Rücken, auf dem Bauch und anderen Körperteilen. Mit einem Schlag wird mir klar, was mein soziales Umfeld die letzten Jahre wunderbar ausgeblendet hat: es gibt unzählige Menschen, die es für selbstverständlich nehmen, andere Menschen anstarren und wie Gegenstände bewerten zu dürfen.

Mir wird schlecht. Klar weiß ich, dass dieses Phänomen leider nicht in den 50ern ausgestorben ist und dass nicht umsonst in immer mehr Bars und anderen Lokalitäten „Luisa“  Einzug hält. Aber selbst zu spüren, wie beschissen dieses Gefühl ist und wie ich zu was gemacht werde, was ich nicht sein will, ruft zwischen „Everybody“ und „Wonderwall“ in mir die Frage nach der Menschenwürde auf.

Und gleich darauf die nächste erschrockene Frage: Kann ich Verletzungen der Würde erst wirklich Ernst nehmen, begreifen und mich gegen sie einsetzen, wenn ich sie selbst erfahren habe?

Ankunft bei mir selbst

WER BIST DU WIRKLICH?

Ich wusste es lange nicht. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.
Und dann stellt mir diese (tolle!) Serie diese blöde Frage.
Eine Frage, die mitten in mein Leben trifft.
Eine Frage, die nur ich mir beantworten kann.
Eine Frage, die ich mir beantworten muss.

Und hier wird es schwierig.
Was macht es mir so schwer diese Frage zu stellen?
Was macht es mir so schwer diese Frage zu beantworten?
Klar. Ich.

Transparent – die Serie – erzählt die Geschichte der kalifornischen Familie Pfefferman. Mort Pfefferman (der Vater) beschließt nun als Maura weiterzuleben und eröffnet dieses Geheimnis den erwachsenen Kindern. Diese irren ziemlich ziellos durch ihr Leben und stürzen sich während der Serie von einem Extrem ins andere. Allen wird im Verlauf der Serie immer klarer, wer sie künftig sein möchten.

Eine schöne Vorstellung.

WER BIST DU WIRKLICH?

Die ganze Familie geht auf die Suche nach ihren Antworten.
Jeder ist für sich auf seiner eigenen Reise.
In viele kleinen Momenten der Serie erkenne ich mich wieder.
Vor allem in denen, in denen Unsicherheit und Angst das eigene Handeln lähmen.
Das eigene Leben blockieren. Stillstand auslösen.
Ich mag keinen Stillstand.

Also: WER BIST DU WIRKLICH?

Die Antwort auf die Frage hat mich in Bewegung gesetzt und den Stillstand beendet.
Über die Gefühle der Unsicherheit und Angst legen sich Selbstsicherheit und Freude.
Selbstsicherheit, etwas in Angriff zu nehmen und Freude über das,
was das Leben noch bereithält .

Und: Ankommen.

Transparent – Offizieller Trailer – Staffel 1 Deutsch | Amazon Originals

Würd‘ ich…

Würd’ ich doch endlich mal wieder an den See fahren – wird aber eben nicht gemacht. Stattdessen lebe ich einfach so vor mich hin, mit allen Aufgaben, die das Leben so bereithält. Ich plaudere und lache, mache Dinge, die mir Spaß bringen, aber eben nie das, was ich gerne machen würde, zwischen all dem Sollte und Müsste.

Zeit für die Dinge, die mir wirklich etwas bedeuten, die habe ich scheinbar nicht. Die nehme ich mir nicht. Wieso auch? Es gibt noch so viel Zeit diese Dinge zu tun.
Später, morgen oder nächste Woche vielleicht. Jetzt, da gibt es anderes zu erledigen.

Und dann, dann sitze ich immer wieder da und frage mich, was ich verpasst haben könnte zwischen all dem, was getan werden soll und getan werden muss. Denn hätte ich mir mal die Zeit genommen, um an den See zu fahren, dann gäbe es auch in noch so kalten Wintern und in noch so vereisten Zeiten einen tiefen Atemzug, in dem ich spüren könnte: Ich bin noch da.

Zwischen all dem Stress und zwischen all dem Sollen und Müssen, da bin ich immer noch ich und es gibt Gründe, warum ich bin.

Niemand verdient es, zu verschwinden

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden.

Ich habe mal wieder einen Ohrwurm. So einen richtigen. Einen, der so massv ist, dass ich ihn der Beerschen Ohrwurmkategorisierung nach als „existentiell“ bezeichne.

Aber der Reihe nach. Dass mir das Theater mein Leben erklärt, hab ich schon mal angesprochen. Hier ist wieder so ein Fall: „Dear Evan Hansen“.

Zum Inhalt nur so viel: Was würdest du sagen, wenn ein Jugendlicher, der eher der Außenseiter an seiner Schule ist, nach dem Suizid eines Mitschülers ein großes Missverständnis nutzt, das er jederzeit richtig stellen könnte, um endlich mehr Aufmerksamkeit zu bekommen – von der Schulgemeinschaft; von seiner und der Familie des Verstorbenen; von dem Mädchen, auf das er steht?

Wie dem auch sei, eine der Grundaussagen des Stücks ist, dass es niemand verdient, vergessen und übersehen zu werden. Und das bringt mich zum Nachdenken.

Wen vergesse ich? Wen schiebe ich aus meinem Blickfeld? Absichtlich, unabsichtlich?

Wen würde ich vermissen, wenn sie*er morgen nicht mehr da wäre? Und andersrum: Wer würde bemerken, wenn ich morgen verschwunden wäre?

Ja, stimmt schon. Viel zu schnell verschwinden Menschen aus meinem Blickfeld. Weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, Kontakt zu halten oder weil ich bewusst auf Kontakt verzichte oder… Die anderen im Blick behalten, niemanden vergessen, niemanden in der Sprachlosigkeit verschwinden zu lassen, das würde ich mir gern auf die Fahne schreiben. Ein ziemlicher Brocken.

Niemand verdient es, zu verschwinden. Vielleicht ist das ja ein Aspekt dieser zum Allgemeinplatz – um nicht „Phrase“ zu sagen – gewordenen unantastbaren Würde eines jeden Menschen. Zumindest ist es ein Anspruch, der mich darüber nachdenken lässt, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Ein Anspruch, der mich wach halten kann.

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden. Hoffentlich mehr als ein Ohrwurm.

Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.

Würd‘ ich anders machen?

Das Jahr neigt sich mit der Adventszeit langsam dem Ende zu. 2017 war für mich ein turbulentes und aufregendes Jahr. Vieles hat sich verändert. Vieles hat sich gefestigt und vieles steht noch offen.

Heute vor einem Jahr stand ich noch auf wackligen Beinen und hatte Angst zum Ende zu kommen. Die Mosel hat mir beigebracht, dass Schleifen zu schlagen auch mal gut tut. Ich habe Held*innen verloren und das Chaos regieren lassen.

Einiges ist einfach passiert. Vieles habe ich selbst so entschieden. Nie die riesen Entscheidungen, aber auch nie wirklich einfache. Schritt für Schritt bin ich da angekommen, wo ich jetzt bin.

Würd‘ ich es anders machen?

Sicher einiges, aber wer weiß, wer ich dann jetzt wäre.

Ein Satz im Winter

Urlaub. Endlich. Wandern, Couchen, leckeres Essen, liebe Menschen. So der Plan. Dazu kommt noch Schnee und eine traumhafte Winterlandschaft. Herrlich. Am letzten Tag steht ein älterer Mann am Straßenrand und hält den Daumen raus. Mitten im Schneematsch. Wir nehmen ihn ein Stückchen mit.

Er steigt ein. Zusammen mit einem Strauß aus Tannengrün und Mistelzweigen. Auf den paar Metern, die wir zusammen fahren, erzählt er uns, dass seine Frau einen Blumenladen hatte und er von ihr gelernt hat, Weihnachtsgestecke zu machen. Das macht er jetzt und denkt dabei an sie. Von sich erzählt er fast nichts, nennt nur seinen ehemaligen Beruf und dann sind wir auch schon da.

Er steigt aus, wir geben uns die Hand und dann sagt er einen Satz, der mir in den nächsten Tagen wohl nicht aus dem Kopf gehen wird. Ohne mich zu kennen, sagt er was, das mich so tief drinnen trifft, dass ich erstmal Luft holen muss. Und das im Schnee. Derart kitschig, dass es fast nicht zu glauben ist. Und gleichzeitig so wahr, dass es auf keine Postkarte passt.

Dafür liegen jetzt zwei Zweige Misteln in meinem Auto.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!