Sie wird wieder auferstehen

In Nizza wohnen hat so seine Vorteile. Bei schönem Wetter, was hier oft der Fall ist, verbringe ich den Feierabend gerne am Meer und genieße diesen traumhaften Ort. So war es auch letzten Montag. Um 19 Uhr komme ich nach Hause, setze mich an den Laptop und sehe es direkt: Notre-Dame de Paris brennt. Nicht aus Sensationslust, sondern aus purer Ungläubigkeit muss ich den Live-Stream anmachen. Es ist wahr – dieses Monument brennt. Und man weiß schnell, was das zu bedeuten hat. Der Glockenturm, auch „Der Wald“ genannt, besteht aus 900 Jahre altem Holz in bis zu 90 Metern Höhe. Eine Höhe, die die Feuerwehr nicht erreichen kann.

Nach und nach werden mir als Theologin immer mehr Dinge bewusst. Notre-Dame de Paris brennt und das in der Karwoche. Und das an dem Abend, an dem der französische Staatspräsident eine Rede an die Nation halten sollte. Viel zu viel geht an diesem Abend in meinem Kopf vor. Das Feuer breitet sich minütlich weiter aus. Bis der Glockenturm in sich zusammenfällt. Ich kenne diese Kathedrale sehr gut und weiß in dem Moment, dass alles im Altarraum der Kathedrale gelandet sein muss.

Ist dies ein Zeichen? Die Gelbwesten protestieren nun schon mehr als 20 Wochen jeden Samstag gegen die aktuelle Politik, gegen alles, was sie als ungerecht empfinden. Das Land wirkt gespalten. An diesem Abend soll Präsident Macron seine Reformmaßnahmen, seine Antwort auf die Proteste vorstellen. Dazu kommt es nicht. Aber die Angst um dieses berühmte Monument vereint alle. Die Menschen versammeln sich rund um die Île de la Cité, weinen, liegen sich in den Armen, singen unter Anderem das Ave Maria und sie beten gemeinsam. Bewohner sowie Touristen aller Religionen und Ethnien versammeln sich und halten zusammen wegen einer Kirche.

Am Morgen danach sah ich dann die ersten Bilder aus dem Innenraum. Die Trümmer des Glockenturmes und des Daches liegen überall verteilt. Doch Notre-Dame ist noch da, ohne Dach gar heller wie sonst und die Sonnenstrahlen erleuchten alles. Und da ist es, das goldene Kreuz, es ist völlig unversehrt. Ist es ein Zeichen? Das weiß ich nicht, aber man kann es so sehen. Die gespaltene Gesellschaft ist plötzlich eins, die Welt scheint vereint – für eine Kirche. Ganz so, wie es Jesus wollte.
Für uns ist er gestorben, für uns ist er auferstanden. Notre-Dame erinnert an Jesus, an all seine Taten, seine Worte, an das Christentum. Auch Notre-Dame wird wieder auferstehen. Dafür sorgt die ganze Welt.

Das Loch in der Kirche

Vor ein paar Wochen war ich beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Nicht als Theologin, sondern in einem Team des Organisationsbereich. Zu denken gab mir trotzdem einiges! Teil des Veranstaltungsortes, den wir betreut haben, war die Hospitalkirche in der Innenstadt. Der dort anstehende Umbau war beginnend mit dem Kirchentag Anlass für ein Kunstprojekt, das „Aufbruch – … Weiterlesen …

Meine Sehnsucht hat ein Zuhause.

Im Schulgottesdienst kurz vor Weihnachten stehe ich vor der leeren Krippe. Sie ist einfach gezimmert und hat dennoch eine enorme Strahlkraft auf mich. Sie allein steht symbolisch aufgebahrt vor dem Altar. 
Ich befinde mich in diesen Tagen permanent auf dem Weg zu irgendetwas und dabei spüre ich die allseits bekannte Hektik. Die letzten Arbeitstage, die letzten Einkäufe und vielleicht auch noch das Besorgen der letzten Geschenke.

Ständig wird mir in der Werbung suggeriert, dass ich in weihnachtlicher Stimmung sein sollte. Eigentlich schon seit den ersten Weihnachtsmännern im Verkaufsregal. Spätestens dann im Dezember die Frage: Was wünschst du dir zu Weihnachten? Bevor ich überhaupt begonnen habe, über die Frage nachzudenken, hat bereits ein Großteil meiner Bekannten am Black Friday „zugeschlagen“.

In unserem Schulgottesdienst dann ebenso die Frage: Was wünsche ich mir in diesen Tagen? Und dabei denke ich in erster Linie nicht an etwas Materielles. Mir geht es eher um meine persönlichen Wünsche, meine Sehnsüchte und meine Hoffnungen. Ich merke, dass mich diese Frage auch an diesem letzten Tag vor Weihnachten beschäftigt.

Wenn ich mich umsehe und die Blicke auf die leere Krippe studiere, dann sehe ich, dass ich nicht alleine bin. Vielfältig und bestimmt unterschiedlich dürften die Antworten sein. Am Ende mag es aber vielen ebenso wie mir gehen. Die Sehnsucht nach den wirklich wichtigen Dingen im Leben. 
Ich komme zur Ruhe vor der unscheinbaren Krippe vor dem Altar. Nach und nach füllt sich die Krippe mit kleinen Zetteln. Überfüllt von persönlichen Sehnsüchten, Hoffnungen und Wünschen. 

Ich darf mir sicher sein, dass meine Sehnsucht ein Zuhause hat. 

Frohe Weihnachten

Vergangenen Mittwoch war ich in Bonn auf dem Weihnachtsmarkt. Als ich mich von dort wieder auf den Rückweg gemacht habe, ist mir am Bonner Hauptbahnhof ein junger Mann im Rollstuhl begegnet. Er sprach mich an und fragte: „Darf ich dich nochmal belästigen?“ Meine Antwort: „Du hast mich noch nie belästigt.“ Er meinte: „Ah, da bin ich aber froh. Hättest du vielleicht ein paar Cent für mich übrig…?“, und dann betont er nachdrücklich: „Natürlich nur, wenn es geht.“

Ich stand am Bahnsteig mit einer Tüte voller Weihnachtsgeschenke und habe mir gleich gedacht, dass ich ihm natürlich was geben kann, und gab ihm auch was. Wir kamen ins Gespräch, denn mein Zug hatte Verspätung. Der junge Mann ist gerade mal vier Jahre älter gewesen als ich, er lebt mit Rollstuhl auf der Straße und muss jede Nacht hoffen, dass er eins der beiden Obdachlosenzimmer für behinderte Menschen in Bonn bekommen kann.

Jeder Tag ist ein Kampf. Vielleicht war es etwas naiv, aber ich fragte ihn, ob es denn eine Möglichkeit gibt für ihn, wo er Heilig Abend verbringen könne. Aus meiner Sicht steht dieser Abend so gut wie vor der Tür. Er meinte, soweit könne er heute noch nicht vorausdenken. Ich war platt, und wirklich beeindruckt. Denn bei all dem Mist schaffte er es, sich nett mit mir zu unterhalten und dabei zu lächeln.

Mein Zug fuhr ein und wir verabschiedeten uns. Ganz ehrlich gemeint und gar nicht floskelhaft sagte ich: „Ich wünsche dir alles Gute und Frohe Weihnachten.“ „Das wünsche ich dir auch“, sagte er, wieder mit einem Lächeln auf den Lippen.

Auf meinem Weg mit dem Zug nach Hause fiel mir auf, wie oft ich mich in den letzten Tagen von Menschen verabschiedet habe, die ich vor Weihnachten nicht mehr sehe. Und dann machte ich mir so meine Gedanken darüber, was ich eigentlich alles gemeint habe, wenn ich „Frohe Weihnachten“ sagte. Und mir ist aufgefallen, dass das einiges ist.
Was ich damit meine? Ich gebe mal ein paar Beispiele:

In diesem Fall hieß „Frohe Weihnachten“: „Ich wünsche dir viel Kraft und Durchhaltevermögen und eine Begegnung mit Menschen, die dir helfen können.“

„Frohe Weihnachten“ zu meinen neuen Arbeitskolleg*innen heißt: „Danke, dass ihr mich so gut aufgenommen habt.“

 „Frohe Weihnachten“ zu guten Freund*innen heißt: „Schön, dass es dich gibt! Und danke, dass du immer für mich da bist.“

„Frohe Weihnachten“ zu meiner Familie heißt: „Ich liebe euch!“

Für mich als gläubige Christin beinhaltet jedes der oben gesagten „Frohe Weihnachten“ zusätzlich die Botschaft „Gott wird Mensch. Gott kommt auf die Erde“. Aber eigentlich kann ich garnicht so richtig verstehen, was das bedeutet. Das ist so groß, so unfassbar. Da fällt es mir viel leichter, all die anderen Dinge zu denken und zu wünschen, wenn ich „Frohe Weihnachten“ sage. Aber „Gott kommt auf die Erde“ bedeutet für mich, dass es Hoffnung für den jungen Mann am Bahnsteig gibt. Es bedeutet, dass die Sorgen und Nöte dieser Welt eine Chance auf Heilung haben.

Das hier ist heute mein letzter Beitrag für den Adventskalender. Deswegen möchte ich mich hiermit verabschieden und wünsche allen Leser*innen:

FROHE WEIHNACHTEN (= feiert schön, danke fürs Lesen, bleibt neugierig, seid Sand im Getriebe dieser Welt, Gott kommt auf die Erde ;-))

Wir haben’s verteidigt – bauen’s gemeinsam wieder auf!

Auf dem Boden liegen Tote, in der Luft Tränengas, in der Luft Tränengas.
Ich bin noch gar nicht richtig hier, schon sterben Menschen neben mir…

2015 habe ich zum ersten Mal „Feine Sahne Fischfilet“ live gesehen. Entstanden ist dabei zwischen ihrer Musik und meinem Herz für deutsche Punkmusik eine innige Liebesbeziehung, die in vielen wilden Konzerten mündete.

Zwei Straßen weiter spielen Kinder. In der Stadt riecht es nach Blut. Überall riecht es nach Blut.

Nur wenige Tage nach meinem ersten Konzert ist der Sänger der Band, Monchi, mit einer Hilfsorganisation in die türkisch-syrische Grenzstadt Suruc gereist. Sie wollten Hilfsgüter in die benachbarte und vom IS besetzte Stadt Kobane bringen.

Samstag noch im Rampenlicht. Jetzt steh‘ ich hier und schäme mich. Bald bin ich wieder Zuhaus‘. Sag‘, wie haltet ihr das aus?

Dort entgingen sie selbst nur knapp einem verheerenden Anschlag von Terrorist*innen des IS. Im gleichnamigen Lied Suruc werden die Erfahrungen dieser Stunden verarbeitet, für mich das emotionalste Lied des neuen Albums.

Die Verzweiflung trübt die Sicht. Unsere Tränen kriegt ihr nicht.

Denn das Lied bleibt nicht in der Verzweiflung stehen. Der Refrain berichtet von einer Demonstration der Einwohner*innen am nächsten Tag. Dort wurde ein Plakat gezeigt mit der Aufschrift: „Wir haben’s verteidigt – bauen’s gemeinsam wieder auf!“

Menschen, die schon lange vorher regelmäßig vom IS drangsaliert wurden, nehmen eine Tragödie hin. Nicht mit Hass. Nicht mit Gegengewalt. Nicht mit innerer Verbitterung.

Wir haben’s verteidigt, bauen’s gemeinsam wieder auf!
Es bleibt dabei – du wirst nie verlieren, solang ihr an euch glaubt!

Diese Menschen sind für mich Vorbilder! Vieles droht zusammenzubrechen. Vieles ist zusammengebrochen. Vieles muss wieder aufgebaut werden. Vieles wird wieder aufzubauen sein. In meinem privaten Leben wie in unserer Gesellschaft. Ich will nicht darüber klagen, ich will nicht weinen. Ich will verteidigen und aufbauen und ich weiß genau, ich werde nicht verlieren, solange ich an all das glaube, wofür ich einstehe.

Vor einigen Tagen habe ich Feine Sahne Fischfilet mal wieder live gesehen. Nie habe ich eine Zeile bei einem Konzert so mitgeschrien wie diese: „Wir haben´s verteidigt, bauen´s gemeinsam wiederauf!“

FEINE SAHNE FISCHFILET - SURUC

Wofür will ich Vorbild sein?

Wann bin ich ein gutes Vorbild? Diese Frage beschäftigt mich, seitdem ich vor drei Jahren Vater geworden bin – und in diesem Jahr ganz besonders. Grund dafür war die MHG-Studie oder wie sie ungeschönter im Ganzen heißt: „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.

Ich bin zwar kein Beschäftigter der katholischen Kirche, aber heruntergebrochen besteht der größte Teil meiner Arbeit darin, die Kommunikation kirchlicher Institutionen zu verbessern, um eben wieder Menschen zu erreichen. Ich werbe für den Glauben und ich helfe beim Werben für die Kirche.

Die Frage nach der eigenen Vorbildrolle ist für mich die Frage nach der Übernahme von Verantwortung für meine Handlungen. Ich weiß nicht, wie ich diesen Konflikt auflöse. Ich weiß aber, dass ich mit meiner Arbeit in der Gegenwart Zukunft gestalte. Dass ich mit dem, was ich tue, zeige, was ich für richtig halte.

Ich bin sicherlich nicht immer das beste Vorbild, aber ich weiß, dass wenn ich meiner Tochter zeigen will, wie es auch anders geht, ich nicht bei dem bleiben kann, was gerade ist.

You can’t be what you can’t see.


Marian Wright Edelman – Gründerin und Vorsitzende der Children’s Defense Fund

Alltagstreiben

Ich fühle mich manchmal angetrieben. 
Von Erwartungen, die an mich herangetragen werden. 
Von Erwartungen, die ich mir selbst auferlege. 
Von der Zeit, die so schnell vergeht. 
Von dem Zwang jeden tag zu nutzen und so zu leben, als könnte morgen alles vorbei sein. 

Manchmal bin ich aber auch selbst Antreiberin:
… weil es mir noch nicht reicht, was ich an diesem Tag geschafft habe.
… weil meine Mitmenschen mit meinem Treiben nicht mithalten. 
… weil ich will, dass sich etwas bewegt und es mir einfach nicht schnell genug geht. 

Und dann ist da diese Frage: Lasse ich mich zu sehr treiben? Sind zwei Abende mit zwei guten Filmen ganz gemütlich auf meiner Couch vertane Zeit? Warum hab ich in der Zeit nicht was aus meinem Leben gemacht, etwas erlebt oder bewegt?

Angetrieben, antreiben, mich treiben lassen.
Alle drei sind ein Teil von mir. Ich kann jedes davon und ich bin jedes davon manchmal leid. 
Und dennoch bin ich auch über jedes davon froh!
Froh, dass es Menschen gibt, die mich begeistern, anstecken, eben antreiben. 

Froh, dass ich Menschen begeistern und anstecken, eben antreiben kann. 
Froh, dass es Momente gibt, in denen Ruhe, Durchatmen, mich-einfach-mal-treiben-Lassen einen Platz haben dürfen.

Eine Fahrt für den Weltfrieden

Ich fahre gerne mit Mitfahrgelegenheiten und lerne dabei immer neue Leute kennen. Die Begegnung auf meiner letzten Fahrt nach Freiburg begann wie einer dieser schlechten Witze. 

Ein deutscher Kurde, gerade erfolgreich seinen Hauptschulabschluss auf der Abendschule gemacht, gläubiger Muslim. Eine Tunesierin, Assistenzärztin und seit wenigen Monaten in Deutschland, glaubt an Gott, sieht sich aber nicht in einer Religion gebunden. Und eben ich, ein katholischer Religionslehrer. Wir drei in einem Auto und mehr als zwei Stunden gemeinsame Fahrt. Wir drei leben in völlig unterschiedlichen Welten, wurden unterschiedlich sozialisiert und haben für einen kurzen Augenblick ein gemeinsames Ziel: Freiburg. Ansonsten gehen unsere Vorstellungen mal mehr mal weniger weit auseinander. 

Mit der Tunesierin bin ich mir einig über die negativen Seiten von Religion und warum sich Menschen auch abwenden können, wenn sie bspw. als Frau systematisch diskriminiert werden. Für sie gilt als Ärztin aber auch stets der Primat der Wissenschaft. Ganz anders mein zweiter Mitfahrer. Viele würden ihn als naiv gläubig beschreiben. Er fordert uns allerdings auch heraus, indem er ganz selbstverständlich Allah als den Schöpfer der Erde in sechs Tagen sieht und keinen Zweifel an der lenkenden Hand Gottes im Leben aller Menschen zeigt. Eine lebendige Diskussion entsteht über Vorstellungen von Leben nach dem Tod, Himmel und Hölle, Allah, Prophet*innen usw.

Dann schweigen wir eine Zeit lang. Alles wurde gesagt und die Standpunkte scheinen klar zu sein. Ich denke mir, dass in einem Witz jetzt die Pointe kommen müsste. Treffen sich drei Fremde in einem Auto und dann etwas Unvorhergesehenes. Wir nähern uns Freiburg und zum ersten Mal auf der Fahrt hört es auf zu regnen. Der Himmel öffnet sich und die Sonne glitzert durch einen kleinen Spalt in der Wolkendecke.

Wir reden weiter, doch diesmal geht es um das Leben, den Umgang mit den Mitmenschen, Moral und kurz bevor wir ankommen sind wir uns einig: Alle Menschen sind gleich. Unsere Vorstellungen von Religion, Glauben und Gott gehen wahrscheinlich zu weit auseinander. Letztlich bleiben wir bei diesen Themen auch immer Suchende und Fragende. Wenn es aber um das konkrete Leben auf der Erde und in unserem Auto geht, dann wollen wir Frieden und gleiche Rechte für alle.

Was für eine Verantwortung!

Wenn ihr euch weiter so streitet, dann rollen hier gleich die Panzer über die Straße!

So hat meine Mutter mir und meinem Bruder einmal aus dem ersten Stockwerk ins Wohnzimmer zugerufen, als wir uns in unserer Kindheit in den Haaren hatten (ich glaube, er hat mir tatsächlich an den Haaren gezogen). „Gleich“, so hatte mein kindliches Ich schon herausgefunden, bedeutete bei meiner Mutter eine Zeitspanne von etwa 15 Minuten. So viel Zeit hatten wir also, um uns zu vertragen, bevor der Krieg auf der Straße ausbrechen und es kein Entkommen mehr für uns geben würde. Vor dem Krieg hatte ich eine Wahnsinnsangst, also schwang ich schnell die weiße Fahne und lugte die nächsten 15 Minuten durch das Wohnzimmerfenster auf die Straße, um sicherzugehen, dass wir uns schnell genug vertragen hatten, um den Krieg zu verhindern, dessen Auslöser wir gewesen wären. Was für eine Verantwortung!

Keine Panzer in Sicht! Puh, da hatten wir ja noch einmal Glück gehabt!

Heute bin ich mir sicher, dass unsere Mutter sich nicht darüber bewusst war, wie genau wir ihre Worte im Ärger in diesem Moment genommen haben. Ich weiß jetzt allerdings auch, was sie mit ihrer radikalen und angsteinflößenden Aussage eigentlich gemeint hat: den Zusammenhang, dass die kleinen Streitereien den Anfang von viel größeren Konflikten bis hin zu gewaltigen und grausamen Kriegen bilden können. Wir sollten lernen, dass man sich auch im Kleinen um den Frieden bemühen muss, um Hass und Gewalt im Größeren schon im Keim zu ersticken.

Als ich älter wurde und die Welt schon etwas besser verstand, erzählte mir meine Oma von den Zeiten des Krieges in Deutschland. Ich sah sie während ihrer Erzählungen als Kind vor mir, wie sie ihre Kleidungsstücke vor dem Schlafen gehen ordentlich auf einen Stuhl legt, um in der Nacht jederzeit schnell hineinspringen zu können, falls es Fliegeralarm geben sollte. Ich bin so froh, dass ich ohne Angst einschlafen darf, dachte ich bei mir und ich hatte Angst vor einem dritten Weltkrieg. Das darf niemals passieren! Was ich dafür tun könnte? Sei du immer die Erste, die Frieden stiftet! Das war die Antwort meiner Oma (man merkt, bei wem meine Mutter ihre Erziehung genossen hat). Damals war mir nicht klar, warum das konkret helfen soll. Schließlich sind es doch die Politiker*innen, die Kriege anfangen oder sie verhindern.

Natürlich, so denke ich heute, kann ich persönlich zum Beispiel nichts gegen die heiklen Provokationen eines Donald Trumps tun aber auch einzelne können und auch ich kann für die Werte, die ihnen und mir wichtig sind, eintreten, z.B. für Frieden und Solidarität. Kennenlernen durfte ich das Engagement zweier Freiwilliger, die u.a. auf der ‚Iuventa‘ und für verschiedene NGOs auf dem Mittelmeer Flüchtlingen das Leben retten. Mit ihrem Tun treten sie für Solidarität, Frieden und andere Werte ein. Sie opfern ihre Zeit, finanzielle Mittel, ihre Mühe und Kraft. Für mich sind sie wahre Held*innen, die Respekt, Hochachtung und Applaus verdienen. Von dem ach so werteverliebten Europa und zuweilen seinen Europäer*innen schlägt ihnen aber kein Dank entgegen, sondern Kriminalisierung und Stigmatisierung. Ihre Rettungsschiffe werden in den Häfen festgehalten, damit dabei hingenommen werden kann, dass zu ‚Abschreckungszwecken‘ (Was ist abschreckender als die Hölle, in die die Heimat der Flüchtenden verwandelt wurde?) das Mittelmeer zu einem Massengrab wird.

Diese Zeit und diese Situation schreien nach uns. Sie und die Beispiele der Lebensretter*innen auf See fordern uns auf, die Ersten zu sein, die diesen Kurs nicht akzeptieren und immer wieder neu die Ersten zu sein, die Frieden und Solidarität eine Stimme geben; ob wir damit im Kleinen anfangen oder ob wir zu den ganz großen Held*innen werden.

Sie sind Quertreiber*innen, die Leben retten und zum Dank dafür kriminalisiert werden. Die Lebensretter*innen schauen in die dankbaren Augen von Männern, Frauen und Kindern und dafür werden ihre Schiffe in den Häfen festgehalten. Für ihre Überzeugungen, für die Solidarität zu den vielfach unerwünschten Menschen gehen sie ein hohes Risiko ein. Sie verschaffen den Werten, die in Europa zuweilen mit Füßen getreten werden eine Stimme, die uns alle, die mich herausfordert, in meinem Umfeld die Erste zu sein, die Frieden stiftet, die solidarisch ist, einen ersten Schritt in eine bessere Zukunft zu tun.