Zwangsheirat mit dem Prüfungsstoff

Die Freude über das neue Jahr hält bei mir nie sehr lange an, denn wie jeden Januar steht sie vor der Tür: Die allbekannte und immer herzlich begrüßte Prüfungsphase.

In dieser Zeit führe ich über mehrere Wochen mit meinen Prüfungsstoff eine Beziehung. Ich stehe morgens mit den Prüfungsinhalten auf, sie begleiten mich bis zum Bad, warten dann aber anstandshalber vor der Tür. Von dort aus rufen sie mir zu mich zu beeilen und auch das Frühstück sollte ich nicht länger als nötig hinziehen.

Nette Gespräch mit meiner Mitbewohnerin? Bei Freund*innen melden? Das kommt nicht in Frage!

Schließlich ist es nur die Beziehung zu den Prüfungsinhalten, die ich wirklich brauche. Über die Wochen hinweg werden sie mir immer vertrauter. Komischerweise fange ich an sie zu vermissen, wenn mich etwas anderes in Anspruch nimmt. Wenn ich mich dann endlich wieder nur ihnen zuwenden kann, ist es, als ob mein Herz, sich von einer langen Reise erholend, wieder zur Ruhe kommt.

Schlafen gehen wir natürlich auch zusammen. Ich liege rechts und meine Inhalte, naja, die liegen auch rechts und belagern sogar meine linke und meine rechte Gehirnhälfte. Da wird im Traum schon einmal überlegt, wie der Konjunktiv II des Verbs „sein“ gebildet wird (Nicht dass man es am Tag nicht wüsste!) oder was Henry de Lubac für einen Rhythmus für das christliche Leben verordnet.

Aber Moment mal! Für Lubac ist es der Dreischritt des Wurzelfassens, des Loslösens und Wandelnlassens der den Takt des Tages bestimmen sollte. Am Beginn eines Tages sollte das stehen was mir, unabhängig von der Prüfungszeit, tief im Inneren wichtig ist. Es sollte mein Mittelpunkt sein und so auch meinen Tag mitbestimmen! Denn der Prüfungsstoff  verlässt mich nach der Prüfungsphase wieder, aber das, was tief in mir ist, das begleitet mich weiter.

Von Zeit zu Zeit Chaos

Es könnte so einfach sein mit diesen Deadlines, diesen Abgabeterminen, diesen unerwartet auftauchenden Fristen, die ich dann doch immer wieder mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss. Wie bei diesem Text hier: In paar Minuten soll er online gehen. Und ich? Ich hatte bis gestern noch nicht einmal eine Idee, worüber ich schreibe. Es könnte so einfach sein, denn Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“

Also rein theoretisch hätte ich immer genügend Zeit für meine Sachen. Theoretisch hätte ich aber auch das Latinum besser als mit ausreichend bestehen können. Es ist dann doch immer wieder die Praxis, die mir aufzeigt, dass scheinbar alles unter dem Himmel seine Zeit hat, aber die Anzahl der Stunden und wie ich sie nutze dann doch in meiner Verantwortung bleibt.

Denn auch wenn alles eine Stunde hat, so lasse ich mich oft dazu verleiten, die Stunden der Sachen parallel zu legen. So kommt es von Zeit zu Zeit zum Chaos; aber auch das hat seine Zeit.

Warten auf den Frühling

Vergangene Woche bin ich durch mein tief verschneites und winterliches Heimatdorf spaziert. Ein solcher Spaziergang ist für mich immer mit vielen Erinnerungen verbunden. Sowohl an direkt erlebte Ereignissen als auch allgemeinerer Natur an eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Ganz schön merkwürdig mit 24 Jahren eine solche Aussage zu treffen.

Doch es gibt viele Orte in meinem Dorf, die mir dies deutlich bewusst machen: Die Bank unterhalb des Friedhofs, auf der immer ein älterer Herr saß, ist meistens leer, vor dem Haus an dem ich gerade vorbeispaziere steht kein Stuhl, obwohl früher immer dort eine Frau saß und sich mit den Vorbeikommenden über das Wetter unterhielt, und auch der Dorfladen, der von einer älteren Dame geleitet wurde, die immer, schon bevor ich den Laden richtig betreten hatte, mein Lieblingseis in der Hand hielt, ist geschlossen. All diese Orte und ihre Personen waren für mich feste Institutionen, die das Leben hier ausmachten. Nun sind sie nicht mehr da.

Das macht mich sehr traurig. Nicht nur, weil ich diese Personen vermisse, auch weil ich immer wieder spüre, wie sehr diese Personen dem Leben und dem Geist hier fehlen. Manchmal bekomme ich Angst, dass die doch recht wenigen jungen Menschen im Dorf diese Lücken nicht füllen können. Es scheinen mir immer weniger Schultern zu sein, auf denen das Dorfleben lastet.

Manchmal glaube ich, dass aus dem goldenen Herbst in meinem Dorf ein bitterkalter Winter geworden ist.

Doch bei diesem winterlichen Spaziergang fielen mir Plakate auf: Zum Einen wird zum ersten Mal ein Disco-Fox-Kurs angeboten, zum Anderen ist mein Dorf jetzt an ein Netz eines sogenannten Bürger*innenbusses angeschlossen, mit dem Senior*innen einfach und kostengünstig zum Supermarkt oder zu Ärzt*innen fahren können. Beim Lesen dieser Plakate wurde ich davon abgelenkt, dass zwei Kinder, die gerade einen Schneeiglu gebaut haben, mit ihrer Mutter diskutierten, ob sie jetzt wirklich nach Hause kommen müssen. Nach einigem Protest gingen die Kinder an mir vorbei auf dem Weg nach Hause. Genau als sie an mir vorbeikamen sagte eins zum anderen: „Guck nicht so traurig! Morgen kommen wir bestimmt wieder!“

Da stand ich tief im Schnee mit der dicken Jacke in meiner Winterstimmung und es kam mir ein älteres Lied der Sportfreunde Stiller in den Sinn, mit dem ich mich dann aber doch selbst ermahnen musste:

„Und ich warte mal wieder auf den Frühling!
Man kann nicht nur traurige Lieder singen,
doch bald werden sie wieder anders klingen,
wenn die ersten Sonnentage Wärme bringen!“

Sportfreunde Stiller - Frühling