Meine Freiheit ist mir heilig – oder?

„Schreib, wenn Du zuhause bist.“ – „Mach ich. Du aber auch.“

Verrückt. Vor allem, weil es nicht meine Mama ist, die mich darum bittet, sondern die Freundin, mit der ich gerade was trinken war. Und der Heimweg auch keine dreistündige Autofahrt, sondern 10 Minuten mit dem Fahrrad ist. Hätte mir jemand vor 2 Monaten erklärt, wie bereitwillig ich auf solche Aufforderungen reagiere, hätte ich nur verwundert den Kopf geschüttelt. Meine Freiheit, überall und zu jeder Zeit hinradeln oder –gehen zu können, ohne dass jemand darüber Bescheid wissen muss, war mir heilig. Nachts alleine durch die halbe Stadt, macht mir doch nichts aus. Das mulmige Gefühl im Wald einfach weggepfiffen.

Doch gerade ist es irgendwie sehr bewusst, wie angreifbar und verletzlich wir sind. Wir geben zum ersten Mal zu: Naja, mulmig war mir da ja schon immer. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, ist nicht höher, aber präsenter geworden. Rational also völliger Bullshit, jetzt anzufangen, solche Nachrichten mit „Bin gut angekommen“ zu schreiben. Irrational auch die Angst in mir. In mir, die nach den Anschlägen von Paris im letzten Jahr gesagt hatte „Jetzt erst recht!“ – Weihnachtsmarkt, Festival, Großstadt. Es nervt mich, wie erleichtert ich bin, wenn mich ein „Gut angekommen“ erreicht und wie pflichtbewusst ich das meine zurückschicke.

Es macht mir so krass bewusst, wie viel mir meine Freiheit wert ist. Und wie wichtig mir meine Freund*innen sind. Und wie vergänglich alles ist. Freiheit, Frieden, Leben. Was hilft? Irgendwie nicht viel.

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Jeden Tag ein neues Törchen. Dieser Beitrag ist Teil unseres Adventkalenders 2016 zum Thema Mensch werden. Alle weiteren Einträge findest du in unserem Archiv unter Adventskalender 2015 oder in unserem Online Adventskalender.

Baustelle Leben

Ein Gruppenleiterkurs –  nicht der erste, nicht der letzte, aber wie jeder halt doch besonders. Auf diesem war die Zusammensetzung außergewöhnlich. Normalerweise begegnen mir auf solchen Veranstaltungen doch verdächtig viele Menschen, die Soziale Arbeit, Erziehungswissenschaften oder was anderes mit Hang zur Pädagogik studieren. Diesmal: Maschinenbauer, Wirtschaftsinformatiker, Informationstechniker. Immer wieder höre ich die Aussage: „Also mit Spiritualität haben wir es ja nicht so bei uns…“ Aber spätestens, als wir über das Versprechen reden (ein zentrales Mittel der Pfadfindermethode, bei dem sowohl einzelne Mitglieder der Gruppe gegenüber ein Versprechen ablegen, als auch die Gruppe sich verantwortlich erklärt für die Einzelnen), wird klar: einzigartige Gänsehaut-Tränen-in-den-Augen-seltsamberührende Momente am Lagerfeuer und am See kennt jede*r.

Als ich am vorletzten Tag den Arbeitsauftrag „Gestaltet einen Wortgottesdienst“ formuliere (das Thema Spiritualität gehört nicht nur zu unserem Verband, sondern ist auch ein Element der Leiterausbildung), ist die Skepsis dennoch groß. Aber im Laufe des Nachmittags entsteht eine bizarre, unerwartete, wuselige, vorfreudige Atmosphäre und es entsteht ein Abend, der mir immer noch nachhängt:

Am Fluss hinterm Haus sind hunderte Teelichter auf Boden, überhängenden Zweigen, am Ufer verteilt, zwei kleine Bodenfeuer erhellen die nasskalte, ungemütliche Nacht. Als Sitzgelegenheit gibt es Matratzen, die Liedauswahl ist ungewöhnlich und ehrlich. Keine fertigen Kirchenlieder, sondern vor allem Popsongs, die viele seit Jahren begleiten. Vorgefertigte Texte aus frommen Andachtsbüchern? Fehlanzeige. Selbst geschriebene Texte, Gedanken zum Thema „Baustelle Leben“, zum Evangelium und zum Nachdenken verbinden Geschichten der Einzelnen zu einer gemeinsamen Feier. Sie verkünden Freiheit, Gemeinschaft und Vertrauen ins Leben. Einige Ausschnitte daraus möchte und darf ich hier veröffentlichen:

Die Gedanken zu Beginn entführen in die erste gemeinsame Wohnung eines Pärchens, das einen Streit über Deckenfarben doch noch versöhnlich meistert: „Beide streichen die Küche zu Ende. Nach getaner Arbeit sitzen sie auf dem Boden ihres leeren Wohnzimmers, sie lehnen an der Heizung. Tom hat seinen Arm um Lila gelegt, schaut ihr in die Augen und sagt: ‚Diese Baustelle haben wir nun auch gemeistert.‘ Lila antwortet: ‚Und die anderen Baustellen, die uns das Leben bereitet, werden wir auch meistern.‘

„Falls du mal nicht genug Energie hast, um deine Baustelle zu erleuchten, lass deine Projekte ruhen. In der Dunkelheit passieren zu viele Fehler, die deine ganze Großbaustelle ruinieren können. Warte, bis die Sonne wieder aufgeht, um dann mit neuem Eifer weiter zu bauen. Nur im Licht kannst du weiter arbeiten und vorankommen.“ Als Kern der Gedanken zu Mk 4,21-25.

Am Ende bleibt eine Gewissheit aus den Impulsfragen zur Baustelle Leben:

„Meine Baustellen sind nicht klar abgesteckt. Sie überlappen, haben kleine Baustellen in sich selbst. Alle Baustellen sind unterschiedlich, alle Baustellen erzeugen ihre eigenen Gefühle bei mir.

Ich will an meinen Baustellen arbeiten.

Ich will ihnen Raum geben zu wachsen.

Ich will sie zulassen, ich will sie fertig stellen.

Ich will meine Baustellen leben!“

Credits: Pascal Brand, Joshua Kreiner, Björn Lubitz, Tobias Lubitz, Nils Werner

Deckenhass

Eigentlich braucht es wirklich viel, damit ich richtig böse werden kann. Unrecht, Ungerechtigkeit, Rassismus, Menschen, die zur Legitimation ihrer Thesen behaupten, sie wären das Volk, oder Gegentore gegen den FC Kaiserslautern sind unter anderem solche Kapitalverbrechen, die mich richtig aggressiv werden lassen können.

Mit – vielleicht – einer Ausnahme sind das Punkte, bei denen sicherlich jede*r mitgehen kann und sagen kann: „Ja, das kann böse werden lassen, das sind wirklich richtig krasse Dinge!“

Zugegeben: Da gibt es noch was, was ich nicht direkt in die Liste aufgenommen habe, weil es vielleicht doch ein bisschen peinlich ist.

Wenig kann ich so hassen wie meine Decke.

Es ist nachts um 2, man kann nicht schlafen und dann ist die Decke nicht richtig. Die eine Hälfte des Bezugs ist leer und die Decke hat sich entweder unten oder auf einer Seite des Bezugs verdreht. Man versucht mit den Beinen, sie wieder richtig zu machen, zieht rechts und links und oben und unten und es geht nicht.

Nachts um 2, man kann nicht schlafen und muss jetzt sogar noch aufstehen und die Decke ausschütteln. Wenig kann ich so hassen!

Es einmal ausgesprochen zu haben, tut gut: Ich hasse wenig so sehr wie meine Decke, wenn sie nicht richtig ist. Und das ist okay. Vielleicht braucht jeder Mensch absurd klingende Dinge, die man liebt oder hasst. Zumindest hat es mich gelehrt, ein bisschen toleranter gegenüber den Angewohnheiten anderer Menschen zu sein, wenn ich sie auch noch so bescheuert finde.