Baustelle Leben

Ein Gruppenleiterkurs –  nicht der erste, nicht der letzte, aber wie jeder halt doch besonders. Auf diesem war die Zusammensetzung außergewöhnlich. Normalerweise begegnen mir auf solchen Veranstaltungen doch verdächtig viele Menschen, die Soziale Arbeit, Erziehungswissenschaften oder was anderes mit Hang zur Pädagogik studieren. Diesmal: Maschinenbauer, Wirtschaftsinformatiker, Informationstechniker. Immer wieder höre ich die Aussage: „Also mit Spiritualität haben wir es ja nicht so bei uns…“ Aber spätestens, als wir über das Versprechen reden (ein zentrales Mittel der Pfadfindermethode, bei dem sowohl einzelne Mitglieder der Gruppe gegenüber ein Versprechen ablegen, als auch die Gruppe sich verantwortlich erklärt für die Einzelnen), wird klar: einzigartige Gänsehaut-Tränen-in-den-Augen-seltsamberührende Momente am Lagerfeuer und am See kennt jede*r.

Als ich am vorletzten Tag den Arbeitsauftrag „Gestaltet einen Wortgottesdienst“ formuliere (das Thema Spiritualität gehört nicht nur zu unserem Verband, sondern ist auch ein Element der Leiterausbildung), ist die Skepsis dennoch groß. Aber im Laufe des Nachmittags entsteht eine bizarre, unerwartete, wuselige, vorfreudige Atmosphäre und es entsteht ein Abend, der mir immer noch nachhängt:

Am Fluss hinterm Haus sind hunderte Teelichter auf Boden, überhängenden Zweigen, am Ufer verteilt, zwei kleine Bodenfeuer erhellen die nasskalte, ungemütliche Nacht. Als Sitzgelegenheit gibt es Matratzen, die Liedauswahl ist ungewöhnlich und ehrlich. Keine fertigen Kirchenlieder, sondern vor allem Popsongs, die viele seit Jahren begleiten. Vorgefertigte Texte aus frommen Andachtsbüchern? Fehlanzeige. Selbst geschriebene Texte, Gedanken zum Thema „Baustelle Leben“, zum Evangelium und zum Nachdenken verbinden Geschichten der Einzelnen zu einer gemeinsamen Feier. Sie verkünden Freiheit, Gemeinschaft und Vertrauen ins Leben. Einige Ausschnitte daraus möchte und darf ich hier veröffentlichen:

Die Gedanken zu Beginn entführen in die erste gemeinsame Wohnung eines Pärchens, das einen Streit über Deckenfarben doch noch versöhnlich meistert: „Beide streichen die Küche zu Ende. Nach getaner Arbeit sitzen sie auf dem Boden ihres leeren Wohnzimmers, sie lehnen an der Heizung. Tom hat seinen Arm um Lila gelegt, schaut ihr in die Augen und sagt: ‚Diese Baustelle haben wir nun auch gemeistert.‘ Lila antwortet: ‚Und die anderen Baustellen, die uns das Leben bereitet, werden wir auch meistern.‘

„Falls du mal nicht genug Energie hast, um deine Baustelle zu erleuchten, lass deine Projekte ruhen. In der Dunkelheit passieren zu viele Fehler, die deine ganze Großbaustelle ruinieren können. Warte, bis die Sonne wieder aufgeht, um dann mit neuem Eifer weiter zu bauen. Nur im Licht kannst du weiter arbeiten und vorankommen.“ Als Kern der Gedanken zu Mk 4,21-25.

Am Ende bleibt eine Gewissheit aus den Impulsfragen zur Baustelle Leben:

„Meine Baustellen sind nicht klar abgesteckt. Sie überlappen, haben kleine Baustellen in sich selbst. Alle Baustellen sind unterschiedlich, alle Baustellen erzeugen ihre eigenen Gefühle bei mir.

Ich will an meinen Baustellen arbeiten.

Ich will ihnen Raum geben zu wachsen.

Ich will sie zulassen, ich will sie fertig stellen.

Ich will meine Baustellen leben!“

Credits: Pascal Brand, Joshua Kreiner, Björn Lubitz, Tobias Lubitz, Nils Werner

Hier bin ich richtig

Donnerstag, 17.20 Uhr: Rushhour im Kaufland und ich mittendrin. Genervt schiebe ich meine Einkaufskarre vorbei an gestresst wirkenden Menschen und durch die unzähligen Lebensmittelreihen, von denen aus mir die Produkte quasi zuzurufen scheinen: „Kauf mich, hol mich mit nach Hause! Ich tu dir gut, denn ich gebe dir das Gefühl, dass du dich glücklicher, schlanker, gesünder, ausgewogener fühlst.“ Der Wein zwinkert mir dabei ganz besonders verführerisch zu…

Aber keine Chance! Heute wird das nichts, mit bewusstem Einkaufen, Preisvergleich und Kauferlebnis. Ich will einfach meine Einkaufsliste abarbeiten – wobei ich genau weiß, dass später genau die Sachen, die drauf stehen und die ich wirklich brauche im Laden liegen bleiben werden – und dann ab nach Hause auf die Couch, denn es war ein langer Tag. Außerdem fehlt sowieso nur noch ein kleines Fünkchen irgendetwas und ich raste aus.

Der Grund: Vor fünf Minuten habe ich mir, nachdem ich endlich einen Parkplatz gefunden habe – natürlich schön weit weg vom Eingang und den Einkaufskarren – und meinen Berg Pfand zur Rückgabestation geschleppt habe, einen Krieg mit dem Pfandflaschenautomat geliefert… Flasche rein, Flasche raus, Falsche rein, Flasche raus, Flasche drin, Automat voll, anderer Automat, Flasche rein, Flasche raus, Automat voll, alle restlichen Automaten belegt…

„Kaufland – hier bin ich richtig“ dröhnt es aus den Lautsprechern. Schwer zu sagen, wer mehr Hingabe besitzt: Die Frau am Lautsprecher oder ich, wie ich eine Packung Spaghetti in den Wagen werfe. Plötzlich kommt unerwartete Spannung auf: Ein bekanntes Gesicht! Mit neugewonnener Energie flüchte ich mich in den nächsten Gang, um mich vor der Konversation zu drücken. Das hätte mir jetzt noch gefehlt. Lasst mich einfach alle in Ruhe!

Dann, nach gefühlt einer Stunde, habe ich alles zusammen und steuere die Kassen an. Wenn ich daran denke, das alles ins Auto, vom Auto ins Haus und in die Schränke zu räumen, sinkt meine Stimmung gen Gefrierpunkt. Während ich meine eingekauften Sachen endlich auf das Band knalle – Murphys Gesetze haben ihre Richtigkeit wieder einmal bewiesen, natürlich habe ich mich in die langsamste Schlange gestellt – bekomme ich eine Situation zwischen einer älteren Dame und einem jungen Mann mit, die vor mir an der Kasse stehen.

Die alte Frau hat Probleme, ihren schweren Einkauf auf das Band zu heben. Der junge Mann will ihr helfen. Die Frau schaut erst etwas skeptisch, freut sich dann aber umso mehr, dass jemand so aufmerksam ist und ihr hilft. Nachdem alles auf dem Band liegt, fragt sie den Mann: „Haben Sie Kinder?“ Der Mann nickt. Die Frau kramt in ihren Tüten und zieht einen Teddybär hervor. „Für Ihre Kinder. Danke fürs Anpacken.“

Mehr passiert nicht und schon ist der kleine, scheinbar unbedeutsame und etwas seltsame Moment vorbei. Doch er hat eine riesige Wirkung: Plötzlich muss ich lächeln… In aller Ruhe räume ich meine Sachen in die Karre, summe mein Lieblingslied vor mich hin und fahre nach Hause.