Ertrinkende Menschen schweigen

Letztens habe ich im Radio einen Bericht über die Gefahr von Baden in freien Gewässern gehört. Eindrücklich beschrieb darin ein Rettungsschwimmer, dass viele Menschen eben auch deswegen ertrinken, weil die Umstehenden nicht wissen, wie ertrinken aussieht.

Ertrinkende rufen nicht – wie im Film – um Hilfe oder winken wild mit den Armen. Ertrinkende schweigen und gehen unter. Denn Ertrinken ist eine Erschöpfung. Ein nicht mehr Können. Der Kopf ist unter Wasser. Und wenn die Ertrinkenden es schaffen, das Gesicht über das Wasser zu bekommen, dann müssen sie einatmen, um wichtige Sekunden bis zur ersehnten Rettung zu überbrücken.

Ertrinkende hören nicht mehr auf ihren Namen. Sie können sich nicht mehr bemerkbar machen.

Sie ertrinken ohne ein letztes Wort.

Der Mensch hat keine Stimme mehr, kann niemandem seine Geschichten erzählen, kein Wort geht währenddessen über seine Lippen. Der ertrinkende Mensch schweigt solange, bis jemand die Stimme für ihn findet.

Zeit, die gekommene.

Endspurt – Weihnachtswoche, die Vorfreude steigt auf Weihnachten.
Doch was wäre, würde ich morgen sterben.

Wäre dann alles gesagt, alles getan?
Wären da noch „offene Rechnungen“, ausstehende Entschuldigungen?

In der vorweihnachtlichen Romantik, die sich zwischen den Jahresabschlussstress ergießt, bleibt kaum Platz für dieses Thema.
Doch es ist da, ganz nah. Und das Leben stellt mir diese Fragen, als ich die weiße Decke über die verstorbene Patientin ausbreite.

Was wäre, würde Morgen das Ende sein, und nicht Weihnachten die Ankunft, der Beginn.

Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!

Ein letzter Sommertag

Es ist noch dunkel im Zimmer. Der Wecker – zum zweiten Mal – vertröstet. Noch fünf Minuten. Bitte! Ein paar Sonnenstrahlen, die sich zwischen Kleiderschrank und Vorhang durchzwängen, lassen einen heißen Tag erahnen. Ein letzter Sommertag.

Mein Handy klingelt. Papa meint das Display. Papa? frage ich mich. „Papa?“ frage ich in den Hörer. So früh? Naja, acht. „Sitzt du?“ Nein, ich liege noch. Noch fünf Minuten. Bitte! „Es ist was Schreckliches passiert.“ Was Schreckliches? So redest du sonst doch nicht? Dann sagt er einen Namen. Dann etwas Unmögliches. Etwas Undenkbares. Was Schreckliches.

Eine Bekannte meiner Eltern. Eine ihrer Trauzeuginnen. Mehr: eine Freundin der Familie.

Mehr: eine neunundvierzigjährige Mutter einer kleinen Tochter. Neun vielleicht. Neun. Und. Vierzig. Eine Ehefrau. Eine Tochter. Eine Schwester. Eine, die immer fragt. Wie es ist. Wie es geht. Vor drei Wochen hat sie mir noch einen Espresso gekocht. Was Schreckliches.

„Scheiße.“, sage ich in den Hörer. „Scheiße“. Mehr kann ich nicht sagen. Mehr kann ich nicht denken. Und –  eingekocht in ein fünf Buchstaben großes Klischee – die eine Frage, die nicht gestellt werden kann, geschweige denn beantwortet: Warum? Warum jetzt? Warum sie? Warum?

Irgendwie kam ich dann doch zum Fenster. Vorhang auf: Ein letzter Sommertag.

Morgens kurz ins Büro. Ging alles irgendwie. Irgendwie normal. Ging alles irgendwie gut.

Für den Nachmittag hatte sich schon länger Besuch angemeldet. Gemeinsames Kochen. Gemeinsames Schwitzen beim Spazieren. Gemeinsamer Blick in die Weite und zwischen alledem immer wieder ein Thema. Was Schreckliches. Und ein Wort. Scheiße.

Meine Ohren klingeln. Zwei Wörter sind zu wenig, ein Wort ist zu viel. Alles, was gesagt wird, und was gesagt werden wird, steht dem Nichts gegenüber, was gesagt werden kann. Gemeinsamer Blick in die Weite. In das blaue weite Nichts. Ein Blick nach oben – wohin ist doch egal, hast du uns das nicht so gesagt? Dass du da bist? – eine Frage nach oben: Warum? Warum jetzt? Warum sie? Warum?

Die Sonne scheint. Keine Wolke. Etwas Wind. Ein letzter Sommertag.

Gegen Abend verabschieden wir uns. „Schön, dass ihr da wart.“ Schön, dass ihr da wart. Gut, dass ihr da wart. Und dann, die Tür ist zu, die Klinke noch in meiner Hand, ein Lächeln. Ein Lächeln, irgendwie echter als jedes andere an diesem dann doch irgendwie normalen Tag. Warum? Das wird sich mir nicht erschließen, vermutlich nicht. Aber dass du da bist, habe ich irgendwie verstanden, auch wenn ich auf diese Erfahrung so gut und gerne hätte verzichten können. Scheiße. Schön, dass ihr da wart. Gut, dass ihr da wart.

Weil ich das Lächeln, allein in meiner Wohnung, unpassend finde, höre ich wieder auf damit. Komme wieder zu dem einen Wort zurück, das diesen Tag so schrecklich treffend durchzieht: Scheiße.

Ich bleibe am Kalender hängen. Ein Abreißkalender, dessen Blätter ich in einen kleinen Karton stecke, wenn ihre Tage gezählt sind. Montag. August. Einunddreißig.

Der letzte Sommertag.