Zu spät

Manchmal ist einfach alle zu spät. Zu spät für ein ordentliches Frühstück. Zu spät, um eine Entscheidung zu überdenken. Zu spät, um überhaupt zu entscheiden, nur noch die Zeit zu handeln.

Manchmal lebt mein Leben sich ohne mich und es ist zu spät noch auf diesen einen Zug mit aufzuspringen. Lieber nebenherlaufen. Hoffen, dass er nochmal anhält.

Manchmal ist eben alles zu spät und ich verpasse Dinge. Fristen. So kommt dieser Eintrag erst Montagmittag statt Sonntag früh. Doch um das zu ändern ist es jetzt auch zu spät.

Zeit für ein Wendemanöver. Zurück zum Agieren, statt stets zu reagieren.

Ich bin nicht würdig?!

Das schwierige an so einem Adventskalender zum Thema „WürdIch“ ist, auch in der letzten Woche noch Einfälle zu haben, die zu diesem Thema bisher noch nicht geschrieben wurde.

Das letzte Wochenende habe ich mich da doch sehr schwergetan, hin und her überlegt, welchen Aspekt von Würde ich noch beleuchten könnte.

Es wurde Freitag, es wurde Samstag, es wurde Sonntag… Ich hatte einfach keine gute Idee.

Meine letzte Hoffnung habe ich in den Besuch des Gottesdienstes am Sonntag gesetzt. Ich habe mir fest vorgenommen mit offenen Augen und Ohren den Gottesdienst zu besuchen um so vielleicht bestärkende und schöne Aspekte zum Thema „Würde“ und „Ich“ zu hören.

Den ersten Aspekt habe ich in der Lesung gehört.

„Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.“

Das ist doch schon ein Anfang, so kann’s weitergehen!

Nach der Lesung wird der Zwischengesang gesungen, das Magnificat, der Lobgesang Mariens aus dem Lukasevangelium:

„…Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut…“

Niedrige Magd?! Auf den ersten Blick vielleicht nicht so passend zum Thema „Würde“ und „Ich“. Aber mal sehen, was das Evangelium bereithält:

„…ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren…“

Okay, es geht zwar um Jesus, aber selbst für so eine Aufgabe nicht wert genug zu sein?

Puh.

Sensibilisiert für dieses Thema ging es weiter.

„…Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach…“

Also langsam wird es ganz schön dicke!

Am Ende des Gottesdienstes bin ich noch einen Moment am Pfarrbriefstand am Ausgang der Kirche stehen geblieben. Dort war ein kleines Kärtchen, dass wohl zur Heiligsprechung von Papst Johannes XXIII. herausgegeben wurde. Als ich das Kärtchen aufgeschlagen habe, las ich dort, als wäre es eine Zusammenfassung des gesamten Gottesdienstes:

„…Nie ist der Mensch größer, als wenn er kniet…“

Da hatte ich also eine geballte Ladung Inspiration für einen Adventskalendereintrag, wusste nur überhaupt nichts damit anzufangen. In diesem Gottesdienst kam der Gedanke eines niedrigen – ja vielleicht sogar erniedrigten -, demütigen Menschen so direkt und hart auf mich zu, dass alles, was ich wohl theologisch Schlaues darüber sagen könnte, vergessen habe. Mir schwirrte nur die Frage im Kopf: „Wie passt das denn jetzt mit dem Thema des Adventskalenders zusammen? Was kann ich denn da sagen?“

Auf der Heimfahrt hatte ich das Radio an. Ganz zugehört hab ich nicht, aber irgendwo verschwommen im Hintergrund kamen Worte wie: Arabischer Frühling, Jerusalem, Donald Trump, Attentat in Pakistan, Brexit, Raketentest, Antisemitismus…

Da ist es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen gefallen.

Ja, es stimmt!

„…Nie ist der Mensch größer als wenn er kniet…“

Von der Sehnsucht loszugehen

So wie Raphael mal geschrieben hat, bin ich auch einer, der von Disney-Filmen entscheidend geprägt wurde. Und mein absoluter Disney-Lieblingsfilm ist eindeutig „Herkules“. Und mein absolutes Disney-Lieblingslied (Die sind doch sowieso das Wichtigste in den Filmen, oder?) ist „Go the distance“.

Da geht es um meine Sehnsucht.
Es geht um meine eigenen Potentiale.
Es geht darum, herauszufinden, was ich kann und wer ich bin und wie das zusammenhängt.
Es geht darum, anzukommen.
Und es geht darum, loszugehen.

Wohin gehst du?

Go The Distance - Hercules - Shawn Hook & KHS

Ein Freund bleibt ein Freund…

Nachtschicht auf dem Rettungswagen, gegen halb zwölf ruft uns der Melder zu einem Notfalleinsatz. Ein gestürzter Mann auf der Straße – die Passant*innen, die den Herrn umsorgend versuchen in der stabilen Seitenlage zu halten, berichten, er sei umgefallen wie ein Brett. – Kein Wunder, denn die zwölf großen Bier, von denen er berichtet, gingen nicht spurlos vorbei.

Es ist ein Klassiker: ein wohnungsloser Mann, nur einige Jahre älter als ich, nach einem Streit mit Verwandten hat er seinen Frust kräftig im Hopfensaft ertränkt. Während unserer Versorgung wiederholt er seine Fragen, und  schildert seine Eindrücke von dieser Welt und seinem Leben. Die Situation – in einem Rettungswagen liegend und nicht mehr wissend, was geschah – kränkt ihn,  ist ihm peinlich. Er weint. Ich hoffe, dass das Wechselbad der Gefühle nicht in Aggression umschlägt, wie es auch durchaus mal vorkommt. Klientelpolitik, bei der ich mich selbst erwische, da sie keinerlei Relevanz für die Versorgung und die Situation hat.

Wir reden ihm gut zu, wiederholen geduldig, fast mantraartig unsere Maßnahmen und unsere nächsten Schritte. „Ein Freund bleibt ein Freund“, sagt er immer wieder. Er glaubt, wir seien uns schon mal begegnet und fantasiert mich in abstruse Situationen seines Lebens.

In der Klinik hockt er in der Notaufnahme auf einer Trage und ruft mich zu sich, er bietet mir den Platz neben sich an, den ich etwas zurückhaltend doch einnehme. Dann stützt er sich mit dem Arm auf meiner Schulter ab und erklärt mir noch einmal „ein Freund bleibt ein Freund“ und bedankt sich per Handschlag für unsere Versorgung. Für die Klinik-Kolleg*innen ein etwas seltsames Bild: der rot-blau leuchtende Uniformträger nebst der Alkoholfahne, die wie zwei Freunde auf einer Mauer sitzen und über das Leben sinnieren. Einerseits mag ich diese Nähe nicht mit diesem fremden Menschen, andererseits sehe ich, dass es ihm gut tut – und mir nicht weh.

Für mich eine kurze Begegnung, eine Mission, die mir wieder einmal zeigt wie die in unserer Gesellschaft, in unseren Vorurteilen, in unserer Welt untergehen, die wenig bis nichts haben. Ihre Wünsche nach einem „normalen“ Leben, nach verlässlichen Freund*innen – wer kennt sie nicht? Ich wünsche, er findet ihn*sie: der*die Freund*in, der*die ein*e Freund*in bleibt.

Alle Menschen sind frei

Am 10. Dezember 1948 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte genehmigt und verkündet. Ihr erster Artikel: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Zeilen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Die wesentlichen Züge meines Lebensgefühls sind benannt: Meine Freiheit, meine unantastbare Würde, meine Rechte, meine Vernunft, mein Gewissen und Nächstenliebe als wesentlicher Bestandteil des Umgangs miteinander.

Und doch bleiben Bauchschmerzen. Ich bin sicher nicht perfekt und auch ich profitiere mit Wohlstand von der Grenzpolitik der Europäischen Union. Auch ich trage Kleider (wenn auch mit jedem Einkauf weniger), die unter unfairen Bedingungen produziert worden sind. Und auch ich esse täglich Fleisch.

Alle Menschen sind gleich und ich handle für meine Würde und meine Rechte nicht in Geschwisterlichkeit. Ich würde lügen, wenn ich jetzt als moralische Pointe hier ansetze und sage: Nach diesem Artikel fange ich an ein guter Mensch zu sein. Schmeiße mein Handy weg, kaufe mir ein Fairphone, esse kein Fleisch und trage nur noch FairFashion. Glaub mir: Das werde ich wohl nicht.

Aber ich werde mich auch nicht hinter „Kann man doch eh nichts machen.“ und „Du machst das doch auch.“ und „So ist unsere Gesellschaft nun mal.“ verstecken, sondern für mein Handeln auch Verantwortung übernehmen.

Denn es gibt kein Argument, das einem Menschen seine Würde nimmt.

Ankunft bei mir selbst

WER BIST DU WIRKLICH?

Ich wusste es lange nicht. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.
Und dann stellt mir diese (tolle!) Serie diese blöde Frage.
Eine Frage, die mitten in mein Leben trifft.
Eine Frage, die nur ich mir beantworten kann.
Eine Frage, die ich mir beantworten muss.

Und hier wird es schwierig.
Was macht es mir so schwer diese Frage zu stellen?
Was macht es mir so schwer diese Frage zu beantworten?
Klar. Ich.

Transparent – die Serie – erzählt die Geschichte der kalifornischen Familie Pfefferman. Mort Pfefferman (der Vater) beschließt nun als Maura weiterzuleben und eröffnet dieses Geheimnis den erwachsenen Kindern. Diese irren ziemlich ziellos durch ihr Leben und stürzen sich während der Serie von einem Extrem ins andere. Allen wird im Verlauf der Serie immer klarer, wer sie künftig sein möchten.

Eine schöne Vorstellung.

WER BIST DU WIRKLICH?

Die ganze Familie geht auf die Suche nach ihren Antworten.
Jeder ist für sich auf seiner eigenen Reise.
In viele kleinen Momenten der Serie erkenne ich mich wieder.
Vor allem in denen, in denen Unsicherheit und Angst das eigene Handeln lähmen.
Das eigene Leben blockieren. Stillstand auslösen.
Ich mag keinen Stillstand.

Also: WER BIST DU WIRKLICH?

Die Antwort auf die Frage hat mich in Bewegung gesetzt und den Stillstand beendet.
Über die Gefühle der Unsicherheit und Angst legen sich Selbstsicherheit und Freude.
Selbstsicherheit, etwas in Angriff zu nehmen und Freude über das,
was das Leben noch bereithält .

Und: Ankommen.

Transparent – Offizieller Trailer – Staffel 1 Deutsch | Amazon Originals

Würd‘ ich…

Würd’ ich doch endlich mal wieder an den See fahren – wird aber eben nicht gemacht. Stattdessen lebe ich einfach so vor mich hin, mit allen Aufgaben, die das Leben so bereithält. Ich plaudere und lache, mache Dinge, die mir Spaß bringen, aber eben nie das, was ich gerne machen würde, zwischen all dem Sollte und Müsste.

Zeit für die Dinge, die mir wirklich etwas bedeuten, die habe ich scheinbar nicht. Die nehme ich mir nicht. Wieso auch? Es gibt noch so viel Zeit diese Dinge zu tun.
Später, morgen oder nächste Woche vielleicht. Jetzt, da gibt es anderes zu erledigen.

Und dann, dann sitze ich immer wieder da und frage mich, was ich verpasst haben könnte zwischen all dem, was getan werden soll und getan werden muss. Denn hätte ich mir mal die Zeit genommen, um an den See zu fahren, dann gäbe es auch in noch so kalten Wintern und in noch so vereisten Zeiten einen tiefen Atemzug, in dem ich spüren könnte: Ich bin noch da.

Zwischen all dem Stress und zwischen all dem Sollen und Müssen, da bin ich immer noch ich und es gibt Gründe, warum ich bin.

Niemand verdient es, zu verschwinden

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden.

Ich habe mal wieder einen Ohrwurm. So einen richtigen. Einen, der so massv ist, dass ich ihn der Beerschen Ohrwurmkategorisierung nach als „existentiell“ bezeichne.

Aber der Reihe nach. Dass mir das Theater mein Leben erklärt, hab ich schon mal angesprochen. Hier ist wieder so ein Fall: „Dear Evan Hansen“.

Zum Inhalt nur so viel: Was würdest du sagen, wenn ein Jugendlicher, der eher der Außenseiter an seiner Schule ist, nach dem Suizid eines Mitschülers ein großes Missverständnis nutzt, das er jederzeit richtig stellen könnte, um endlich mehr Aufmerksamkeit zu bekommen – von der Schulgemeinschaft; von seiner und der Familie des Verstorbenen; von dem Mädchen, auf das er steht?

Wie dem auch sei, eine der Grundaussagen des Stücks ist, dass es niemand verdient, vergessen und übersehen zu werden. Und das bringt mich zum Nachdenken.

Wen vergesse ich? Wen schiebe ich aus meinem Blickfeld? Absichtlich, unabsichtlich?

Wen würde ich vermissen, wenn sie*er morgen nicht mehr da wäre? Und andersrum: Wer würde bemerken, wenn ich morgen verschwunden wäre?

Ja, stimmt schon. Viel zu schnell verschwinden Menschen aus meinem Blickfeld. Weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, Kontakt zu halten oder weil ich bewusst auf Kontakt verzichte oder… Die anderen im Blick behalten, niemanden vergessen, niemanden in der Sprachlosigkeit verschwinden zu lassen, das würde ich mir gern auf die Fahne schreiben. Ein ziemlicher Brocken.

Niemand verdient es, zu verschwinden. Vielleicht ist das ja ein Aspekt dieser zum Allgemeinplatz – um nicht „Phrase“ zu sagen – gewordenen unantastbaren Würde eines jeden Menschen. Zumindest ist es ein Anspruch, der mich darüber nachdenken lässt, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Ein Anspruch, der mich wach halten kann.

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden. Hoffentlich mehr als ein Ohrwurm.

Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.