Würd‘ ich…

Würd’ ich doch endlich mal wieder an den See fahren – wird aber eben nicht gemacht. Stattdessen lebe ich einfach so vor mich hin, mit allen Aufgaben, die das Leben so bereithält. Ich plaudere und lache, mache Dinge, die mir Spaß bringen, aber eben nie das, was ich gerne machen würde, zwischen all dem Sollte und Müsste.

Zeit für die Dinge, die mir wirklich etwas bedeuten, die habe ich scheinbar nicht. Die nehme ich mir nicht. Wieso auch? Es gibt noch so viel Zeit diese Dinge zu tun.
Später, morgen oder nächste Woche vielleicht. Jetzt, da gibt es anderes zu erledigen.

Und dann, dann sitze ich immer wieder da und frage mich, was ich verpasst haben könnte zwischen all dem, was getan werden soll und getan werden muss. Denn hätte ich mir mal die Zeit genommen, um an den See zu fahren, dann gäbe es auch in noch so kalten Wintern und in noch so vereisten Zeiten einen tiefen Atemzug, in dem ich spüren könnte: Ich bin noch da.

Zwischen all dem Stress und zwischen all dem Sollen und Müssen, da bin ich immer noch ich und es gibt Gründe, warum ich bin.

Niemand verdient es, zu verschwinden

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden.

Ich habe mal wieder einen Ohrwurm. So einen richtigen. Einen, der so massv ist, dass ich ihn der Beerschen Ohrwurmkategorisierung nach als „existentiell“ bezeichne.

Aber der Reihe nach. Dass mir das Theater mein Leben erklärt, hab ich schon mal angesprochen. Hier ist wieder so ein Fall: „Dear Evan Hansen“.

Zum Inhalt nur so viel: Was würdest du sagen, wenn ein Jugendlicher, der eher der Außenseiter an seiner Schule ist, nach dem Suizid eines Mitschülers ein großes Missverständnis nutzt, das er jederzeit richtig stellen könnte, um endlich mehr Aufmerksamkeit zu bekommen – von der Schulgemeinschaft; von seiner und der Familie des Verstorbenen; von dem Mädchen, auf das er steht?

Wie dem auch sei, eine der Grundaussagen des Stücks ist, dass es niemand verdient, vergessen und übersehen zu werden. Und das bringt mich zum Nachdenken.

Wen vergesse ich? Wen schiebe ich aus meinem Blickfeld? Absichtlich, unabsichtlich?

Wen würde ich vermissen, wenn sie*er morgen nicht mehr da wäre? Und andersrum: Wer würde bemerken, wenn ich morgen verschwunden wäre?

Ja, stimmt schon. Viel zu schnell verschwinden Menschen aus meinem Blickfeld. Weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, Kontakt zu halten oder weil ich bewusst auf Kontakt verzichte oder… Die anderen im Blick behalten, niemanden vergessen, niemanden in der Sprachlosigkeit verschwinden zu lassen, das würde ich mir gern auf die Fahne schreiben. Ein ziemlicher Brocken.

Niemand verdient es, zu verschwinden. Vielleicht ist das ja ein Aspekt dieser zum Allgemeinplatz – um nicht „Phrase“ zu sagen – gewordenen unantastbaren Würde eines jeden Menschen. Zumindest ist es ein Anspruch, der mich darüber nachdenken lässt, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Ein Anspruch, der mich wach halten kann.

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden. Hoffentlich mehr als ein Ohrwurm.

Lieber Bischof,

Lieber Nikolaus,

ich weiß nicht, ob ich es dir mal so bewusst gesagt habe, aber eigentlich bist du schon einer meiner liebsten Heiligen. Klar ist das jetzt ein bisschen Mainstream, wer mag dich denn nicht? Da geht es dir ja wie St. Martin, dich findet doch jeder cool.

Zugegeben, es ist auch keine revolutionäre Idee dir einen Brief zu schreiben, sicherlich wirst du gerade von Kindern mit Briefen, Bildern oder anderen Basteleien überschüttet.

Heute, an deinem Gedenktag, will ich es trotzdem einmal tun. Ich bitte dich sehr diesen Brief zu lesen, denn ich möchte dir etwas Wichtiges sagen.

Ich möchte nämlich keine Geschenke oder dir etwas Besonderes von mir erzählen. Trotzdem ist dieser Brief eine Art Wunschzettel.

Als Kind habe ich dich natürlich schon immer toll gefunden, mittlerweile habe ich sogar verstanden, warum ich dich immer noch tolle finde. Ich würde gerne mehr und mehr werden wie du.

Ok, der Bart und die Haare müssten nicht sein. Auch ist es nicht nötig, dass alle Menschen anfangen zu singen, wenn sie mich sehen.

Ich muss auch kein Kornwunder vollbringen können, auch wenn es natürlich schön wäre.

Viel mehr würde ich gerne ein anderes Wunder von dir lernen.
Ich würde gerne allen Menschen immer mit Respekt und Freude begegnen.
Ich würde gerne überall, wo ich auftauche, Freude in die Augen von Menschen zaubern.
Ich würde gerne lernen ein Mensch zu sein, der, wo er auch hinkommt, Not sehen und lindern kann.

Ja, vor allem würde ich gerne ein Mensch sein, der Herzen aus Stein verwandeln kann.
Vielleicht übertreibe ich gerade ein bisschen, und du konntest auch mal ein Griesgram sein.

Aber bestimmt hast du da einen guten Trick auf Lager.
Ich denke, wir sollten bezüglich der guten Vorsätze für das neue Jahr weiter korrespondieren.

Liebe Grüße,
dein Michael

Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.

Würd‘ ich anders machen?

Das Jahr neigt sich mit der Adventszeit langsam dem Ende zu. 2017 war für mich ein turbulentes und aufregendes Jahr. Vieles hat sich verändert. Vieles hat sich gefestigt und vieles steht noch offen.

Heute vor einem Jahr stand ich noch auf wackligen Beinen und hatte Angst zum Ende zu kommen. Die Mosel hat mir beigebracht, dass Schleifen zu schlagen auch mal gut tut. Ich habe Held*innen verloren und das Chaos regieren lassen.

Einiges ist einfach passiert. Vieles habe ich selbst so entschieden. Nie die riesen Entscheidungen, aber auch nie wirklich einfache. Schritt für Schritt bin ich da angekommen, wo ich jetzt bin.

Würd‘ ich es anders machen?

Sicher einiges, aber wer weiß, wer ich dann jetzt wäre.

Ein Satz im Winter

Urlaub. Endlich. Wandern, Couchen, leckeres Essen, liebe Menschen. So der Plan. Dazu kommt noch Schnee und eine traumhafte Winterlandschaft. Herrlich. Am letzten Tag steht ein älterer Mann am Straßenrand und hält den Daumen raus. Mitten im Schneematsch. Wir nehmen ihn ein Stückchen mit.

Er steigt ein. Zusammen mit einem Strauß aus Tannengrün und Mistelzweigen. Auf den paar Metern, die wir zusammen fahren, erzählt er uns, dass seine Frau einen Blumenladen hatte und er von ihr gelernt hat, Weihnachtsgestecke zu machen. Das macht er jetzt und denkt dabei an sie. Von sich erzählt er fast nichts, nennt nur seinen ehemaligen Beruf und dann sind wir auch schon da.

Er steigt aus, wir geben uns die Hand und dann sagt er einen Satz, der mir in den nächsten Tagen wohl nicht aus dem Kopf gehen wird. Ohne mich zu kennen, sagt er was, das mich so tief drinnen trifft, dass ich erstmal Luft holen muss. Und das im Schnee. Derart kitschig, dass es fast nicht zu glauben ist. Und gleichzeitig so wahr, dass es auf keine Postkarte passt.

Dafür liegen jetzt zwei Zweige Misteln in meinem Auto.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

Die Mauern von heute

28 Jahre lang stand auf europäischem Boden eine sehr reale Grenze,  ein Unrecht.
Weithin sichtbar. Real in den Köpfen.
Dieses Unrecht zeriss ein Europa, das zusammenzuwachsen versuchte.
Es verdeutlichte gleichzeitig durch seine Sichtbarkeit und Realität: Bis hier hin und nicht weiter darf gegangen, gedacht, gelebt werden.
Und dann zerbrach das Unrecht mit einem Scheppern und Günther Schabowskis flapsigen Worten: „Das tritt nach meiner Kenntniss… – ist das sofort.

Heute blüht ein Naturschutzgebiet als grünes Band dort, wo Erich Honecker den modernsten Grenzzaun der Welt plante. Und das ehemals zerrissene Europa wankt zwar, aber besonders die sogenannten Jungen – wer auch immer da dazu gehört – leben darin wie selbstverständlich ihre europäischen Freiheitsrechte. Sie, und damit meine ich eben auch mich,  gehen, denken, leben wo und wie sie wollen.

Statt eines trennenden Unrechts scheint vereinende Freiheit Europa zu bestimmen.

Worüber aber keiner spricht:
Diese Freiheiten werden durch Grenzen „gesichert“.
In einer Welt, die zusammenzuwachsen versucht, sind so gut wie alle möglichen Wege nach Europa dicht.

Millionenbeträge werden gezahlt, damit die Jungen und die Armen dieser Welt nicht hier her kommen.
Menschen werden in Lagern gehalten.
Modernste Zäune und Drohnentechnologie wirken wie Erich Honeckers feuchter Traum.
Und werden gerade geplant.
Auch das ist Unrecht. Aber da es mich nicht betrifft, nehme ich es nur sehr schwer wahr.

Welche Worte werden es zum Fall bringen und wer wird sie sprechen?