Auf dem Weg…

In den letzten Tagen habe ich mich mit den Vorbereitungen zum diesjährigen Friedenslicht beschäftigen dürfen. Das Motto in diesem Jahr, „Auf dem Weg zum Frieden“, fand ich am Anfang zugegebenermaßen recht unkreativ – nicht fancy, nicht spannend genug.

In den letzten Tagen aber habe ich für mich gemerkt, dass es tatsächlich gut in diese Zeit passt (und die braucht meiner Meinung nach gerade echt nicht mehr Lametta). Es spricht für mich eine realistische Sprache: Frieden, den gibt es noch nicht überall. Im Gegenteil, manchmal kann man das Gefühl bekommen, immer mehr Unfriedensorte entstehen, die Welt gerät immer mehr in Schieflage. Und trotzdem die Hoffnung und den Einsatz für ein weltweit friedliches Miteinander nicht aufzugeben, dazu spricht mir das Motto Mut zu. Und auch die Aufforderung: für den Frieden muss man sich bewegen, auf den Weg machen.

Ein Lied, das ich nicht verstehe

Ben Hofer - Du und I - Die Standesbeamtin Soundtrack

Die schweizerische Liebeskomödie „Die Standesbeamtin“ (Was für ein romantischer Name) beginnt mit dem Lied „Du und I“. Eine, wenn man den Text versteht, sicher sehr schnulzige und herzzereißende Liebesballade. Passend zum Film. Wenn man den Text versteht? Korrekt. Denn der ganze Film ist auf schwizerdütsch. Heißt für mich: Ich verstehe kein Wort. Also das ist jetzt auch übertrieben: Ein zwei Happen verstehe ich schon, aber ohne Untertitel hätte ich mir genauso gut auch einen französischen Film anschauen können.

Seitdem ich den Film 2010 in der SneakPreview gesehen habe, geht mir das Anfangslied „Du und I“ nicht mehr aus dem Kopf. Immer mal wieder stoße ich darauf und höre es mir in Dauerschleife an. Es hat zum einen etwas beruhigendes , zum anderen, und an dieser Stelle könnte man mich für verrückt halten, ist es sehr angenehm, dass ich zwar etwas, aber nicht alles vom Text verstehe. Es gibt auch keinen Liedtext online, wo ich mal nachschauen könnte. Ich reime mir einfach den Sinn zusammen. So ist das zwar nicht exegetisch korrekt, aber dafür gibt es immer wieder eine Textzeile die mir im Kopf bleibt.

Verrückt, oder?

Ein Freund bleibt ein Freund…

Nachtschicht auf dem Rettungswagen, gegen halb zwölf ruft uns der Melder zu einem Notfalleinsatz. Ein gestürzter Mann auf der Straße – die Passant*innen, die den Herrn umsorgend versuchen in der stabilen Seitenlage zu halten, berichten, er sei umgefallen wie ein Brett. – Kein Wunder, denn die zwölf großen Bier, von denen er berichtet, gingen nicht spurlos vorbei.

Es ist ein Klassiker: ein wohnungsloser Mann, nur einige Jahre älter als ich, nach einem Streit mit Verwandten hat er seinen Frust kräftig im Hopfensaft ertränkt. Während unserer Versorgung wiederholt er seine Fragen, und  schildert seine Eindrücke von dieser Welt und seinem Leben. Die Situation – in einem Rettungswagen liegend und nicht mehr wissend, was geschah – kränkt ihn,  ist ihm peinlich. Er weint. Ich hoffe, dass das Wechselbad der Gefühle nicht in Aggression umschlägt, wie es auch durchaus mal vorkommt. Klientelpolitik, bei der ich mich selbst erwische, da sie keinerlei Relevanz für die Versorgung und die Situation hat.

Wir reden ihm gut zu, wiederholen geduldig, fast mantraartig unsere Maßnahmen und unsere nächsten Schritte. „Ein Freund bleibt ein Freund“, sagt er immer wieder. Er glaubt, wir seien uns schon mal begegnet und fantasiert mich in abstruse Situationen seines Lebens.

In der Klinik hockt er in der Notaufnahme auf einer Trage und ruft mich zu sich, er bietet mir den Platz neben sich an, den ich etwas zurückhaltend doch einnehme. Dann stützt er sich mit dem Arm auf meiner Schulter ab und erklärt mir noch einmal „ein Freund bleibt ein Freund“ und bedankt sich per Handschlag für unsere Versorgung. Für die Klinik-Kolleg*innen ein etwas seltsames Bild: der rot-blau leuchtende Uniformträger nebst der Alkoholfahne, die wie zwei Freunde auf einer Mauer sitzen und über das Leben sinnieren. Einerseits mag ich diese Nähe nicht mit diesem fremden Menschen, andererseits sehe ich, dass es ihm gut tut – und mir nicht weh.

Für mich eine kurze Begegnung, eine Mission, die mir wieder einmal zeigt wie die in unserer Gesellschaft, in unseren Vorurteilen, in unserer Welt untergehen, die wenig bis nichts haben. Ihre Wünsche nach einem „normalen“ Leben, nach verlässlichen Freund*innen – wer kennt sie nicht? Ich wünsche, er findet ihn*sie: der*die Freund*in, der*die ein*e Freund*in bleibt.

Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.

Geschenkewahnsinn

Ok. Ich bin auch wirklich nicht allzu früh dran und es ist gar nicht mal mehr so viel Zeit bis zum 24. Dezember. Gestern war Halbzeit. Die Woche sowieso voll. Bis oben hin. Muss ja doch noch alles in diesem Jahr passieren. Keine Ausreden. Würde auch gern mal Pause machen. Aber weiter. Hier bestellen. Da ist ein Angebot. Hier nochmal über jenes Geschenk nachdenken. Tun ja irgendwie alle. Alle. Jede*r. Wäre doof, wenn kein Geschenk für andere, obwohl ich ein Geschenk bekomme. Kann man ja nicht machen. Macht man ja nicht so. Vielleicht. Also wenn dieser man das nicht macht, dann sollte ich das auch so handeln. Ich. Dreh. Durch. Stopp. Jetzt.

Wo ist die Würde?

Alle Menschen sind frei

Am 10. Dezember 1948 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte genehmigt und verkündet. Ihr erster Artikel: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Zeilen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Die wesentlichen Züge meines Lebensgefühls sind benannt: Meine Freiheit, meine unantastbare Würde, meine Rechte, meine Vernunft, mein Gewissen und Nächstenliebe als wesentlicher Bestandteil des Umgangs miteinander.

Und doch bleiben Bauchschmerzen. Ich bin sicher nicht perfekt und auch ich profitiere mit Wohlstand von der Grenzpolitik der Europäischen Union. Auch ich trage Kleider (wenn auch mit jedem Einkauf weniger), die unter unfairen Bedingungen produziert worden sind. Und auch ich esse täglich Fleisch.

Alle Menschen sind gleich und ich handle für meine Würde und meine Rechte nicht in Geschwisterlichkeit. Ich würde lügen, wenn ich jetzt als moralische Pointe hier ansetze und sage: Nach diesem Artikel fange ich an ein guter Mensch zu sein. Schmeiße mein Handy weg, kaufe mir ein Fairphone, esse kein Fleisch und trage nur noch FairFashion. Glaub mir: Das werde ich wohl nicht.

Aber ich werde mich auch nicht hinter „Kann man doch eh nichts machen.“ und „Du machst das doch auch.“ und „So ist unsere Gesellschaft nun mal.“ verstecken, sondern für mein Handeln auch Verantwortung übernehmen.

Denn es gibt kein Argument, das einem Menschen seine Würde nimmt.

Würd‘ ich springen?

Draußen stürmt es, es ist nass und kalt – doch ich stehe auf einem Sprungbrett, unter mir ein tiefes, menschenleeres Becken, die Sonne scheint. Es ist warm. Ich habe einen klaren Blick auf das Wasser. Ein Schritt, ich falle, fliege, bin frei. Doch hoffentlich verliere ich meine Brille nicht, knalle nicht zu hart auf.

Während sich meine Zehen um die Kante des Sprungbretts krallen, mischt sich alles zusammen. Freude, Neugier, Abenteuerlust, Panik, und die Frage, ob die Leiter runter zu krabbeln, nicht ebenso elegant ist, wenn eh niemand da ist und hinguckt.

Mein Sprungbrett: mein erster Text für dreifach glauben. Spontan hat es sich ergeben in den letzten Tagen durch kollegial-freundschaftliche Gespräche. Seit Jahren habe ich keinen theologischen Text mehr geschrieben. Die Rolle des Theologen ist mir nicht unbedingt fremd – nehme sie doch lieber als Geheimagent war. Das kann ich gut, da bin ich stark.

Würd‘ ich spingen, wenn es so stürmt wie heute? Wenn ich mich da unten nicht auf den Sprung konzentrieren könnte, sondern vor öffentlichem Puplikum springen sollte? – Fragen, die ich mir stelle, und doch feststellen muss: Sie sind Teil des alltäglichen Was-wäre-wenn-und-überhaupt-Spiels, das wir uns antrainiert haben. Sinn und Zweck? Nicht vorhanden, denn es geht um die Fragen: Springst du? Bist du da? Hast du Mut? Vertrauen? Und dies lange nicht nur in den großen Fragen deines Lebens.

Mein erster Text in online. Bin wohl doch gesprungen. Und es tat gut! – Welcher Sprung steht dir heute bevor?

90er-Würde

Samstagabend. Großraumdisko in einer deutschen Kleinstadt. 90er-Party, man wird ja wohl noch feiern dürfen. Es fühlt sich alles ein bisschen nach der guten alten Abizeit an. Zumindest so lange ich mich voll und ganz auf das Bier in meiner Hand und auf meine Freund*innen konzentriere. Irgendwann lasse ich den Blick wandern. Und erschrecke ganz gehörig – so hatte ich das noch nie bewusst erlebt, so noch nie wahrgenommen (manche werden sich zugegebenermaßen berechtigt fragen, in welcher Filterblase ich die letzten Jahre meines Lebens verbracht habe…):

Ein Teil der Gäste steht am Rand, hält sich an einem Drink fest, steckt die Köpfe zusammen, begutachtet und beurteilt das, was von dem anderen Teil auf der Tanzfläche feilgeboten wird: Körperteile, Kleider und Bewegungen. Krass. Wir sind ungefragt im zweiten Teil mitinbegriffen, und ich spüre immer wieder einen Blick im Rücken, auf dem Bauch und anderen Körperteilen. Mit einem Schlag wird mir klar, was mein soziales Umfeld die letzten Jahre wunderbar ausgeblendet hat: es gibt unzählige Menschen, die es für selbstverständlich nehmen, andere Menschen anstarren und wie Gegenstände bewerten zu dürfen.

Mir wird schlecht. Klar weiß ich, dass dieses Phänomen leider nicht in den 50ern ausgestorben ist und dass nicht umsonst in immer mehr Bars und anderen Lokalitäten „Luisa“  Einzug hält. Aber selbst zu spüren, wie beschissen dieses Gefühl ist und wie ich zu was gemacht werde, was ich nicht sein will, ruft zwischen „Everybody“ und „Wonderwall“ in mir die Frage nach der Menschenwürde auf.

Und gleich darauf die nächste erschrockene Frage: Kann ich Verletzungen der Würde erst wirklich Ernst nehmen, begreifen und mich gegen sie einsetzen, wenn ich sie selbst erfahren habe?

Ankunft bei mir selbst

WER BIST DU WIRKLICH?

Ich wusste es lange nicht. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.
Und dann stellt mir diese (tolle!) Serie diese blöde Frage.
Eine Frage, die mitten in mein Leben trifft.
Eine Frage, die nur ich mir beantworten kann.
Eine Frage, die ich mir beantworten muss.

Und hier wird es schwierig.
Was macht es mir so schwer diese Frage zu stellen?
Was macht es mir so schwer diese Frage zu beantworten?
Klar. Ich.

Transparent – die Serie – erzählt die Geschichte der kalifornischen Familie Pfefferman. Mort Pfefferman (der Vater) beschließt nun als Maura weiterzuleben und eröffnet dieses Geheimnis den erwachsenen Kindern. Diese irren ziemlich ziellos durch ihr Leben und stürzen sich während der Serie von einem Extrem ins andere. Allen wird im Verlauf der Serie immer klarer, wer sie künftig sein möchten.

Eine schöne Vorstellung.

WER BIST DU WIRKLICH?

Die ganze Familie geht auf die Suche nach ihren Antworten.
Jeder ist für sich auf seiner eigenen Reise.
In viele kleinen Momenten der Serie erkenne ich mich wieder.
Vor allem in denen, in denen Unsicherheit und Angst das eigene Handeln lähmen.
Das eigene Leben blockieren. Stillstand auslösen.
Ich mag keinen Stillstand.

Also: WER BIST DU WIRKLICH?

Die Antwort auf die Frage hat mich in Bewegung gesetzt und den Stillstand beendet.
Über die Gefühle der Unsicherheit und Angst legen sich Selbstsicherheit und Freude.
Selbstsicherheit, etwas in Angriff zu nehmen und Freude über das,
was das Leben noch bereithält .

Und: Ankommen.

Transparent – Offizieller Trailer – Staffel 1 Deutsch | Amazon Originals