Alle Menschen sind frei

Am 10. Dezember 1948 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte genehmigt und verkündet. Ihr erster Artikel: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Zeilen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Die wesentlichen Züge meines Lebensgefühls sind benannt: Meine Freiheit, meine unantastbare Würde, meine Rechte, meine Vernunft, mein Gewissen und Nächstenliebe als wesentlicher Bestandteil des Umgangs miteinander.

Und doch bleiben Bauchschmerzen. Ich bin sicher nicht perfekt und auch ich profitiere mit Wohlstand von der Grenzpolitik der Europäischen Union. Auch ich trage Kleider (wenn auch mit jedem Einkauf weniger), die unter unfairen Bedingungen produziert worden sind. Und auch ich esse täglich Fleisch.

Alle Menschen sind gleich und ich handle für meine Würde und meine Rechte nicht in Geschwisterlichkeit. Ich würde lügen, wenn ich jetzt als moralische Pointe hier ansetze und sage: Nach diesem Artikel fange ich an ein guter Mensch zu sein. Schmeiße mein Handy weg, kaufe mir ein Fairphone, esse kein Fleisch und trage nur noch FairFashion. Glaub mir: Das werde ich wohl nicht.

Aber ich werde mich auch nicht hinter „Kann man doch eh nichts machen.“ und „Du machst das doch auch.“ und „So ist unsere Gesellschaft nun mal.“ verstecken, sondern für mein Handeln auch Verantwortung übernehmen.

Denn es gibt kein Argument, das einem Menschen seine Würde nimmt.

90er-Würde

Samstagabend. Großraumdisko in einer deutschen Kleinstadt. 90er-Party, man wird ja wohl noch feiern dürfen. Es fühlt sich alles ein bisschen nach der guten alten Abizeit an. Zumindest so lange ich mich voll und ganz auf das Bier in meiner Hand und auf meine Freund*innen konzentriere. Irgendwann lasse ich den Blick wandern. Und erschrecke ganz gehörig – so hatte ich das noch nie bewusst erlebt, so noch nie wahrgenommen (manche werden sich zugegebenermaßen berechtigt fragen, in welcher Filterblase ich die letzten Jahre meines Lebens verbracht habe…):

Ein Teil der Gäste steht am Rand, hält sich an einem Drink fest, steckt die Köpfe zusammen, begutachtet und beurteilt das, was von dem anderen Teil auf der Tanzfläche feilgeboten wird: Körperteile, Kleider und Bewegungen. Krass. Wir sind ungefragt im zweiten Teil mitinbegriffen, und ich spüre immer wieder einen Blick im Rücken, auf dem Bauch und anderen Körperteilen. Mit einem Schlag wird mir klar, was mein soziales Umfeld die letzten Jahre wunderbar ausgeblendet hat: es gibt unzählige Menschen, die es für selbstverständlich nehmen, andere Menschen anstarren und wie Gegenstände bewerten zu dürfen.

Mir wird schlecht. Klar weiß ich, dass dieses Phänomen leider nicht in den 50ern ausgestorben ist und dass nicht umsonst in immer mehr Bars und anderen Lokalitäten „Luisa“  Einzug hält. Aber selbst zu spüren, wie beschissen dieses Gefühl ist und wie ich zu was gemacht werde, was ich nicht sein will, ruft zwischen „Everybody“ und „Wonderwall“ in mir die Frage nach der Menschenwürde auf.

Und gleich darauf die nächste erschrockene Frage: Kann ich Verletzungen der Würde erst wirklich Ernst nehmen, begreifen und mich gegen sie einsetzen, wenn ich sie selbst erfahren habe?

Niemand verdient es, zu verschwinden

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden.

Ich habe mal wieder einen Ohrwurm. So einen richtigen. Einen, der so massv ist, dass ich ihn der Beerschen Ohrwurmkategorisierung nach als „existentiell“ bezeichne.

Aber der Reihe nach. Dass mir das Theater mein Leben erklärt, hab ich schon mal angesprochen. Hier ist wieder so ein Fall: „Dear Evan Hansen“.

Zum Inhalt nur so viel: Was würdest du sagen, wenn ein Jugendlicher, der eher der Außenseiter an seiner Schule ist, nach dem Suizid eines Mitschülers ein großes Missverständnis nutzt, das er jederzeit richtig stellen könnte, um endlich mehr Aufmerksamkeit zu bekommen – von der Schulgemeinschaft; von seiner und der Familie des Verstorbenen; von dem Mädchen, auf das er steht?

Wie dem auch sei, eine der Grundaussagen des Stücks ist, dass es niemand verdient, vergessen und übersehen zu werden. Und das bringt mich zum Nachdenken.

Wen vergesse ich? Wen schiebe ich aus meinem Blickfeld? Absichtlich, unabsichtlich?

Wen würde ich vermissen, wenn sie*er morgen nicht mehr da wäre? Und andersrum: Wer würde bemerken, wenn ich morgen verschwunden wäre?

Ja, stimmt schon. Viel zu schnell verschwinden Menschen aus meinem Blickfeld. Weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, Kontakt zu halten oder weil ich bewusst auf Kontakt verzichte oder… Die anderen im Blick behalten, niemanden vergessen, niemanden in der Sprachlosigkeit verschwinden zu lassen, das würde ich mir gern auf die Fahne schreiben. Ein ziemlicher Brocken.

Niemand verdient es, zu verschwinden. Vielleicht ist das ja ein Aspekt dieser zum Allgemeinplatz – um nicht „Phrase“ zu sagen – gewordenen unantastbaren Würde eines jeden Menschen. Zumindest ist es ein Anspruch, der mich darüber nachdenken lässt, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Ein Anspruch, der mich wach halten kann.

No one deserves to disappear – niemand verdient es, zu verschwinden. Hoffentlich mehr als ein Ohrwurm.

Ein Satz im Winter

Urlaub. Endlich. Wandern, Couchen, leckeres Essen, liebe Menschen. So der Plan. Dazu kommt noch Schnee und eine traumhafte Winterlandschaft. Herrlich. Am letzten Tag steht ein älterer Mann am Straßenrand und hält den Daumen raus. Mitten im Schneematsch. Wir nehmen ihn ein Stückchen mit.

Er steigt ein. Zusammen mit einem Strauß aus Tannengrün und Mistelzweigen. Auf den paar Metern, die wir zusammen fahren, erzählt er uns, dass seine Frau einen Blumenladen hatte und er von ihr gelernt hat, Weihnachtsgestecke zu machen. Das macht er jetzt und denkt dabei an sie. Von sich erzählt er fast nichts, nennt nur seinen ehemaligen Beruf und dann sind wir auch schon da.

Er steigt aus, wir geben uns die Hand und dann sagt er einen Satz, der mir in den nächsten Tagen wohl nicht aus dem Kopf gehen wird. Ohne mich zu kennen, sagt er was, das mich so tief drinnen trifft, dass ich erstmal Luft holen muss. Und das im Schnee. Derart kitschig, dass es fast nicht zu glauben ist. Und gleichzeitig so wahr, dass es auf keine Postkarte passt.

Dafür liegen jetzt zwei Zweige Misteln in meinem Auto.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

Die Mauern von heute

28 Jahre lang stand auf europäischem Boden eine sehr reale Grenze,  ein Unrecht.
Weithin sichtbar. Real in den Köpfen.
Dieses Unrecht zeriss ein Europa, das zusammenzuwachsen versuchte.
Es verdeutlichte gleichzeitig durch seine Sichtbarkeit und Realität: Bis hier hin und nicht weiter darf gegangen, gedacht, gelebt werden.
Und dann zerbrach das Unrecht mit einem Scheppern und Günther Schabowskis flapsigen Worten: „Das tritt nach meiner Kenntniss… – ist das sofort.

Heute blüht ein Naturschutzgebiet als grünes Band dort, wo Erich Honecker den modernsten Grenzzaun der Welt plante. Und das ehemals zerrissene Europa wankt zwar, aber besonders die sogenannten Jungen – wer auch immer da dazu gehört – leben darin wie selbstverständlich ihre europäischen Freiheitsrechte. Sie, und damit meine ich eben auch mich,  gehen, denken, leben wo und wie sie wollen.

Statt eines trennenden Unrechts scheint vereinende Freiheit Europa zu bestimmen.

Worüber aber keiner spricht:
Diese Freiheiten werden durch Grenzen „gesichert“.
In einer Welt, die zusammenzuwachsen versucht, sind so gut wie alle möglichen Wege nach Europa dicht.

Millionenbeträge werden gezahlt, damit die Jungen und die Armen dieser Welt nicht hier her kommen.
Menschen werden in Lagern gehalten.
Modernste Zäune und Drohnentechnologie wirken wie Erich Honeckers feuchter Traum.
Und werden gerade geplant.
Auch das ist Unrecht. Aber da es mich nicht betrifft, nehme ich es nur sehr schwer wahr.

Welche Worte werden es zum Fall bringen und wer wird sie sprechen?

Es wird gut?

Egal was kommt, es wird gut, sowiesoImmer geht ’ne neue Tür auf, irgendwoAuch wenn’s grad nicht so läuft, wie gewohntEgal, es wird gut, sowieso Das Lied von Mark Forster hat mich in diesem Jahr auf der Ferienfreizeit begleitet.Wie gerne würde einfach dem letzten Satz glauben.Nein, es läuft gerade gar nicht wie gewohnt. Vor einer Woche … Weiterlesen …

Angst vor 18:00 Uhr

Da ich nun schon ein paar Jahre in Trier lebe, ist es – leider – alltäglich geworden von römischen Baudenkmälern umgeben zu sein. Wenig achtsam, manchmal ohne sie eines Blickes zu würdigen, passiere ich die Porta Nigra, die Kaiserthermen oder die Konstantinbasilika.

Aber es gibt immer wieder Tage, an denen ich bewusst stehen bleibe.

So auch heute. Seit einigen Minuten stehe ich vor der Konstantinbasilika.

Heute ist vieles anders als sonst.

Ich habe Angst. Genauer gesagt habe ich Angst vor 18:00 Uhr.

Die Konstantinbasilika erinnert mich daran, wie schnell sich die Politik ändern kann. Im dritten Jahrhundert wurden viele Christ*innen von den Römer*innen verfolgt, 313 hat Kaiser Konstantin der Große das sogenannte Mailänder Toleranzedikt unterzeichnet, nur einige Jahrzehnte später wurde das Christentum zur Staatsreligion.

So ist die Konstantinbasilika für mich nicht nur ein Meisterwerk antiker Baukunst. Sie ist auch eine steingewordene Lehrstunde über Politik.

Vielleicht ist mir die Basilika am heutigen Tag deshalb besonders nahe. Ich komme nicht damit klar, wie schnell sich Politik und Gesellschaft manchmal ändern. Vor sechs Jahren habe ich im Geschichtsleistungskurs ungläubig darüber gestaunt, wie rasant sich eine abartige Politik wie die NS-Ideologie in der Breite durchsetzen konnte. Heute muss ich mir um 18:00 Uhr von Bettina Schausten erklären lassen, dass eine Partei in den Bundestag einzieht, deren Spitzenkandidat von „entsorgen“ spricht, wenn er von einem Menschen redet, und die von „Stolz“ reden, wenn sie an die „Leistungen“ der deutschen Soldat*innen in Verdun und Stalingrad denken.

Heute wird mir um 18:00 Uhr ein blauer Balken mit einer Prozentzahl aufzeigen, dass es in Deutschland immer noch rechte Verführer*innen gibt, von denen sich zu viele Menschen verleiten lassen. Heute ab 18:00 Uhr muss ich vielen wunderbaren Menschen und Freunden in Kenia erklären, dass im höchsten Parlament meines Landes eine Partei sitzt, dich sich über „Neger“ und den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ auslässt. Ich könnte im Strahl kotzen! Ich könnte heulen!

Ich fühle mich machtlos. Auch wenn ich den Fernseher um 18 Uhr ausschalte, Bettina Schausten wird trotzdem reden und der blaue Balken wird viel zu hoch ansteigen.

So stehe ich jetzt hier. Ich hasse diese Machtlosigkeit! Ich kann mit diesem Gefühl nicht gut umgehen. Deswegen mache ich der Konstantinbasilika jetzt ein Versprechen. So wie ich mich an die vielen römischen Baudenkmäler in Trier gewöhnt habe und sie nur noch selten richtig wahrnehme, möchte mich nie daran gewöhnen, dass Extremist*innen im Parlament über mein Leben und meine Zukunft entscheiden.

Ich verspreche, Zeuge dafür zu sein, dass ich an Gott glaube, der jeden Menschen gleich geschaffen hat und der die Liebe ist.
Ich verspreche, dass ich für alle Parteien im Deutschen Bundestag beten werde.

Und jetzt gehe ich wählen.

fasten(brechen)

Meine Idealvorstellung der Fastenzeit sieht so aus: Fremdbestimmung und alltägliche Abhängigkeiten erkennen, hinterfragen, bestmöglich unterlassen. In den letzten Jahren habe ich alibimäßig und einigermaßen erfolgreich Fleisch gefastet. Dieses Jahr versuche ich meine Prämisse ernst zu nehmen: ich faste Alkohol und Zigaretten. Warten an der Bushaltestelle gestaltet sich plötzlich völlig anders. Was machen Nichtraucher*innen denn da? … Weiterlesen …