Abstraktion

Ich als Geisteswissenschaftler liebe – hier und da – die Abstraktion. Ich merke in Diskursen immer wieder, dass ich mich mit meinen Gesprächspartner*innen besser verständigen kann, wenn die dahinterliegenden Einstellungen thematisiert werden. Und dafür brauche ich einfach die Abstraktion. Abstraktion kommt vom lateinischen abstractus ‚abgezogen‘, Partizip Perfekt Passiv von abs-trahere ‚abziehen‘, ‚entfernen‘, ‚trennen‘ (Danke Wikipedia); um an die grundsätzliche Einstellung des Menschen zu kommen, gilt es also, alles Konkrete, Flüchtige und eben Temporäre abzuziehen.

Die eigene Einstellung ist fundamental für alle nachfolgenden Argumente. Wenn ich die grundsätzliche Einstellung des Menschen und damit seine grundsätzliche Sicht auf die Welt verstanden habe, fällt es mir leichter seine konkrete Argumentation einzuordnen. Damit dient sie der Erkenntnis.

Ganz schön abstrakt alles. Aber so ist das eben mit dem Dahinterblicken. Konkretes kommt dabei in erster Linie nicht rum, aber dafür lässt sich einiges Konkrete danach besser verstehen. Dabei geht es bei der Abstraktion immer darum, das Konkrete besser zu verstehen.

Wenn mir jedoch eine Person erzählen will, dass „wir“ doch stolz auf die Leistungen der deutschen Soldaten in den zwei Weltkrieg sein können, dann wird die Abstraktion zur Verschleierung des Konkreten – der massiven Verachtung gegenüber dem Leben – genutzt. Dann dient sie nicht mehr der Erkenntnis, sondern einzig dem eigenen Nutzen innerhalb des Diskurses. Aber auch das kann ja eine Erkenntnis über den Menschen sein.

Nein, ich lebe genau so, wie ich will!

Ich bin jetzt zusammen mit meinem Zukünftigem im letzten Monat unserer Hochzeitsvorbereitungen. Dazu gehört eben auch, noch einmal den Saal für die Deko zu begutachten und dem Personal der Location die letzten Wünsche mitzuteilen.

„Ein bisschen Efeu würde sich noch gut in den Fensternischen machen.“ „Nein, ein paar Sitzkissen für draußen zieht die Hochzeitsgesellschaft vielleicht viel zu sehr nach draußen.“
„Brauchen wir zusätzliche Kissen für die Rückenlehnen?“ – „Nein, beim Tischgespräch wendet man sich doch eher nach vorne, sodass der Sitzkomfort nicht wirklich beeinträchtigt wird.“

„Wird es die Schwingungen im Raum verändern, wenn wir eine Cocktailbar einrichten anstatt die Cocktails vom Service bringen zu lassen?“
„Nein, ein bisschen Bewegung kann bei den Gästen schließlich nicht schaden und hebt für gewöhnlich die Stimmung. Ich habe gehört, bei körperlicher Aktivität sollen Glückshormone ausgestoßen werden, die beim Gast dann wohl für das beste Wohlbefinden sorgen!“

Froh, Dinge, die wahrscheinlich für den hochzeitlichen Weltuntergang gesorgt hätten, abgewendet zu haben, wendeten wir uns als nächstes den Absprachen mit dem Service zu. „Haben wir eigentlich Schnapsgläser?“ – „Hm, die müssten unbedingt noch besorgt werden.“

Sie müssten aus Glas sein und natürlich zu den ausgesuchten Gläsern und Tellern passen, sonst riskieren wir schließlich einen Aufruhr unter den Gästen.

Plastikgläschen? Nein, die kommen nicht infrage, sind sie doch völlig unangebracht für ein Fest von solchem Rang!

Am Ende unserer Besprechungen erzählte mir unsere Servicekraft, dass sie letztes Wochenende auf einer Hochzeit bedient hat, auf der selbst Burger für die Gäste zubereitet wurden. Gegessen wurde auf schön eingedeckten Bierbänken in einem Park. Deko bot die Natur. Ein Teich und ein paar Bäume.

In dem Gedanken – zumindest fortan – ein unabhängiges und eigenständiges Leben zu führen, beschloss ich auf dem Weg nach draußen: „Doch Plastikschnapsglässchen! Auch wenn ich damit möglicherweise ein öffentliches Ärgernis errege.“

Umzugsweisheiten

Ein Buch, in das ich Jahre nicht mehr reingeschaut habe.

Ein Bilderrahmen, der seinen Platz auf dem Kleiderschrank gefunden hat und erstmal abgestaubt werden musste, damit das gerahmte Bild überhaupt zu erkennen war.

Eine alte Tasse, aus der ich eigentlich noch nie getrunken habe.

Eine Urlaubspostkarte von einer Freundin aus Schulzeiten, von der ich mittlerweile nicht mal mehr weiß, in welcher Stadt sie lebt.

Ein Kugelschreiber aus einem Urlaub, der seit Jahren nicht mehr schreibt, aber dennoch seinen Platz auf meinem Schreibtisch hat.

Ein T-Shirt, das an meinen Abiturjahrgang erinnert, das ich nach fünf Jahren Studium und Mensa aber maximal noch bauchfrei tragen könnte.

All diese und viele weitere Dinge habe ich in meiner Wohnung gefunden.

All diese und viele weitere Dinge habe ich im Grunde jeden Tag angesehen, rumgeräumt, bei Seite geschoben und dann doch wieder hervorgeholt. Ich habe all diese und viele weitere Dinge nie weggeworfen. Ich habe immer geglaubt, all diese und viele weitere Dinge gehören halt irgendwie dazu.

Nun stand ein Umzug an.

Ich lebe jetzt in einer neuen Wohnung. Ohne das Buch, in das ich Jahre nicht mehr reingeschaut habe; ohne den Bilderrahmen, die alte Tasse und die Urlaubspostkarte. Auch ohne den Kugelschreiber. Das Abi-Shirt liegt bereit für die nächste Altkleidersammlung.

Verrückt, aber ich fühle mich wunderbar und heimisch wie nie in der neuen Wohnung.

All diese und viele weitere Dinge habe ich eigentlich nicht mehr gebraucht.

Vielleicht sollte ich einfach öfter mal umziehen und Dinge auf den Prüfstand stellen.

Einfach mal öfter Abschied nehmen und Platz für Neues schaffen.

Zweifelsfrei

09:29, Hausflur.

„Du solltest an deinen Essgewohnheiten zweifeln“, scheint der Pizzakarton morgens auf dem Weg zur Tonne zu murmeln, bevor er mit einem lautem Knall in ihrem Rachen verschwindet.

Heute bin ich zweifelsfrei.

09:54, Bushaltestelle.

„Du solltest an deinem Zeitmanagement zweifeln“, dröhnt der Bus frech, bevor er mir vor der Nase wegfährt. Ich lächle mir die Sache schön und warte in der Sonne.

Heute bin ich zweifelsfrei.

14:37, Bibliothek.

„Du solltest an deiner Arbeitsmoral zweifeln“, blitzt es von der Chronik der letzten Stunden, bevor ich das Youtubefenster schließe und mich wieder an die Arbeit mache.

Heute bin ich zweifelsfrei.

20:03, Supermarkt.

„Du solltest an deinem Musikgeschmack zweifeln„, scheint es vom Display meinen Handys zu blinken, als die Wiedergabeliste von Maeckes zu Musicals springt.

Heute bin ich zweifelsfrei.

An Tagen wie diesen

Dieser Text ist im Schriftgespräch unter den Autor*innen entstanden.

An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit.
An Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit.
In dieser Nacht der Nächte, die uns soviel verspricht,
erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht.

Das Beste – unendlich Zeit mit denen, die mir wichtig sind – ist es das?

Wenn wirklich alles perfekt ist, dann habe ich manchmal das Gefühl, die Zeit bleibt für einen Moment stehen, Leben im Zeitraffer. Ein Moment, der gefühlt noch ewig so weitergehen könnte. Aber was verspricht mir eigentlich diese „Nacht der Nächte“? Und wird mir im Angesicht der immer größer werdenden Zahl von Angriffen auf unser Leben nicht gerade unser Ende immer stärker vor Augen geführt? Also echt – kein Ende in Sicht?

Was ist das Beste, was wir erleben? Geht es nicht vielleicht morgen noch besser?

Dann wäre es ja die Hoffnung, dass immer was noch Besseres kommt. Aber wo endet diese Hoffnung? Am Lebensende oder danach? Und worauf hofft sie eigentlich, diese Hoffnung? Auf ‚Partys auf Wolken?‘ auf den Weltfrieden, ein Ende an dem alle irgendwie versöhnt sind, oder auf den persönlichen Frieden?

Worauf hofft die Hoffnung? Gute Frage. Natürlich hoff ich auf all das, auf Weltfrieden, Versöhnung und inneren Frieden. Und zwar nicht punktuell, sondern à la „kein Ende in Sicht“. Denn ohne die Hoffnung auf all das verzichte ich gerne auf die Unendlichkeit.

Ob sich diese Hoffnung erfüllt? Ich bin gespannt. An Tagen wie diesen, mit der Osterbotschaft noch im Kurzzeitgedächtnis und umgeben von Menschen, die mein Leben lebenswert machen, kann ich leichter daran glauben, dass die hoffende Hoffnung nicht aussichtslos ist. Aber ich bin auch darauf gefasst, dass auch wieder andere Tage kommen.

Tage, die eben nicht wie dieser sind.
Tage, an denen der Terminkalender aus allen Nähten platzt.
Tage, die dann doch sehr endlich sind.

Dann merke ich, dass ich wohl doch nicht ewig Zeit habe…
Aber ich merke auch, dass ich mich fokussieren muss.
Und weiß plötzlich wieder, wie ich die kleinen Fluchten im Alltag für mich nutze.

Helikopter-Gott

Vor ein paar Tagen habe ich im Fernsehen einen Beitrag über sogenannte „Helikopter-Eltern“ gesehen. Aus unterschiedlichen Gründen, aber immer auf einem fragwürdigen Verständnis von Liebe basierend, überwachen und behüten solche Eltern absolut überfürsorglich ihre Kinder – sie umkreisen sie immer, eben wie Beobachter*innen in einem Helikopter.

Im Beitrag wurden verschiedene Beispiele gezeigt; für mich eines irritierender als das andere: Grundschulen, die vor der Schule sogenannte „Kiss and go“-Zonen einrichten, die verhindern sollen, dass Eltern ihre Kinder sogar bis vors Klassenzimmer bringen; Jugendliche, die dem Druck ihrer überfürsorglichen Eltern nicht standhalten und Polizist*innen, die davon berichten wie oft Eltern von Studierenden sich bei der Polizei mit der Bitte melden, mal in der Studentenbude vorbeizuschauen, da sie das Kind seit geschlagenen sechs Stunden nicht erreichen.

Ich musste an mehreren Stellen bei diesem Beitrag schmunzeln und bin sehr froh, dass meine Eltern nicht so sind. (Auch hoffe ich, dass ich als Vater nie so sein werde.)

Am nächsten Tag habe ich mit einem Freund beim Fußball über diesen Beitrag gesprochen. Ich habe ihm ungefähr genau das erzählt, was ich gerade aufgeschrieben habe. Sofort warf er mir vor: „Ach komm, du bist katholisch! Das ist so übelst Helikopter! Gott guckt jeden die ganze Zeit an und so…“

Da war ich platt. Normalerweise gebe ich mich in Diskussionen nicht so leicht geschlagen, aber bei diesem Einwurf hatte ich so schnell keine passende Antwort parat. Denn so wie er und ich es damals im Kommunionuntericht und Co. beigebracht bekommen haben, mit der Rede über einen Gott, der immer über einen wacht, so ist das schon ziemlich Helikopterstyle.

Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Ich bin den Beitrag mit seinen Beispielen nochmal durchgegangen. Und vielleicht zeigt sich ja durch das ständige Begleiten und Sorgen auch eine besonders Art von Liebe und Zuneigung der Eltern. Vielleicht. Aber Gott handelt anders: Bei Jona gab es vor Ninive keine „Kiss and Go“-Zone, der Prophet Ijob wurde von Gott unter großen Druck gesetzt und bei Jesus kam auch kein*e Polizist*in, nur weil er mal 40 Tage in der Wüste war. Nein, mein Gott ist kein Helikopter. Mein Gott hat Zutrauen. Das ist echte Liebe.

Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!

fasten(brechen)

Meine Idealvorstellung der Fastenzeit sieht so aus: Fremdbestimmung und alltägliche Abhängigkeiten erkennen, hinterfragen, bestmöglich unterlassen. In den letzten Jahren habe ich alibimäßig und einigermaßen erfolgreich Fleisch gefastet. Dieses Jahr versuche ich meine Prämisse ernst zu nehmen: ich faste Alkohol und Zigaretten. Warten an der Bushaltestelle gestaltet sich plötzlich völlig anders. Was machen Nichtraucher*innen denn da? … Weiterlesen …

Nie erwachsen

Ich muss es wohl zugeben: Genau wie Tabaluga, Peter Pan und Bushido habe ich so meine Problemchen mit dem Erwachsenwerden und -sein. Vor allem, weil ich gerne Unsinnigem nachgehe. Etwas, das keinen Platz hat, wenn ich 6 Uhr morgens zur Arbeit muss, den ganzen Tag im Büro Wichtiges erledige und mich dann, wenn ich wieder nach Hause komme, erstmal über die Anstrengungen der Arbeit aufrege, bis ich fernsehguckend auf dem Wohnzimmersofa einschlafe.

Mein ganz persönlicher Albtraum ist eine Routine aus aufstehen, arbeiten, aufregen, einschlafen. Ein Korsett, in dem kein Platz mehr für lustige, aber rein rational unnötige Projekte ist. Oder einfach mal eine Runde am Computer zocken. Wunderbare Zeitverschwendung.

Und nun musste ich im Gespräch mit einem guten Freund feststellen: Huch, so schnell ist man erwachsen und so schlimm haben wir uns dann doch nicht entwickelt. Ja, es gibt andere Prioritäten. Ja, die Zeit wird nicht mehr so zwanglos verschwendet wie früher. Aber, und das ist einfach gut festzustellen, es ist immer noch genug Zeit für Quatsch da.

Bis jetzt habe ich es geschafft dem Korsett zu entgehen, obwohl ich gestern Die Zeit lesend auf der neuen Gartenlounge auf der Terrasse meines Hauses gesessen habe, während meine Tochter im Garten spielte.