Ein Satz im Winter

Urlaub. Endlich. Wandern, Couchen, leckeres Essen, liebe Menschen. So der Plan. Dazu kommt noch Schnee und eine traumhafte Winterlandschaft. Herrlich. Am letzten Tag steht ein älterer Mann am Straßenrand und hält den Daumen raus. Mitten im Schneematsch. Wir nehmen ihn ein Stückchen mit.

Er steigt ein. Zusammen mit einem Strauß aus Tannengrün und Mistelzweigen. Auf den paar Metern, die wir zusammen fahren, erzählt er uns, dass seine Frau einen Blumenladen hatte und er von ihr gelernt hat, Weihnachtsgestecke zu machen. Das macht er jetzt und denkt dabei an sie. Von sich erzählt er fast nichts, nennt nur seinen ehemaligen Beruf und dann sind wir auch schon da.

Er steigt aus, wir geben uns die Hand und dann sagt er einen Satz, der mir in den nächsten Tagen wohl nicht aus dem Kopf gehen wird. Ohne mich zu kennen, sagt er was, das mich so tief drinnen trifft, dass ich erstmal Luft holen muss. Und das im Schnee. Derart kitschig, dass es fast nicht zu glauben ist. Und gleichzeitig so wahr, dass es auf keine Postkarte passt.

Dafür liegen jetzt zwei Zweige Misteln in meinem Auto.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

Die Mauern von heute

28 Jahre lang stand auf europäischem Boden eine sehr reale Grenze,  ein Unrecht.
Weithin sichtbar. Real in den Köpfen.
Dieses Unrecht zeriss ein Europa, das zusammenzuwachsen versuchte.
Es verdeutlichte gleichzeitig durch seine Sichtbarkeit und Realität: Bis hier hin und nicht weiter darf gegangen, gedacht, gelebt werden.
Und dann zerbrach das Unrecht mit einem Scheppern und Günther Schabowskis flapsigen Worten: „Das tritt nach meiner Kenntniss… – ist das sofort.

Heute blüht ein Naturschutzgebiet als grünes Band dort, wo Erich Honecker den modernsten Grenzzaun der Welt plante. Und das ehemals zerrissene Europa wankt zwar, aber besonders die sogenannten Jungen – wer auch immer da dazu gehört – leben darin wie selbstverständlich ihre europäischen Freiheitsrechte. Sie, und damit meine ich eben auch mich,  gehen, denken, leben wo und wie sie wollen.

Statt eines trennenden Unrechts scheint vereinende Freiheit Europa zu bestimmen.

Worüber aber keiner spricht:
Diese Freiheiten werden durch Grenzen „gesichert“.
In einer Welt, die zusammenzuwachsen versucht, sind so gut wie alle möglichen Wege nach Europa dicht.

Millionenbeträge werden gezahlt, damit die Jungen und die Armen dieser Welt nicht hier her kommen.
Menschen werden in Lagern gehalten.
Modernste Zäune und Drohnentechnologie wirken wie Erich Honeckers feuchter Traum.
Und werden gerade geplant.
Auch das ist Unrecht. Aber da es mich nicht betrifft, nehme ich es nur sehr schwer wahr.

Welche Worte werden es zum Fall bringen und wer wird sie sprechen?

Liebe Langeweile,

Ich werde das bestimmt nicht nochmal schreiben, also pass gut auf und bewahr dir diesen Brief auf. Ich sag’s bestimmt nicht wieder, aber für jetzt gilt: Liebe Langeweile, ich vermisse dich ab und an.

Bild dir nichts drauf ein. Es ist sicher keine Liebe, aber ganz ohne dich ist irgendwie auch so stressig. Gefangen zwischen dem Getriebe von Alltag und Routine ist es doch eher anstrengend. Nicht so wie bei dir. Auf der Couch. Vor Netflix. Vor sehr, sehr viel Netflix. Was waren das noch für Zeiten, als ich FRIENDS in ein paar Monaten durchgeschaut habe.

Liebe Langeweile, du hast mich zu geistigem Leerlauf genötigt. Zeiten, in denen ich nichts wusste mit mir anzufangen, statt wie jetzt (theoretisch) durchgetaktet in den Tag zu starten.

Und wenn der Lärm um mich herum mal aufhört, so höre ich es doch noch eine Weile im Kopf weiterarbeiten.

Liebe Langeweile, wenn du mal wieder Langeweile hast, wäre das voll okay für mich, wenn du mal wieder vorbeikommst.

Durchlüften

So, jetzt hab ich also auch endlich mal Stromberg geguckt. Ja, ich weiß, das ist jetzt keine Sensationsmeldung und ich hinke da dem Rest der Welt wahrscheinlich etwas hinterher. Aber ich mache das gerne, abgelaufene Serien gucken. Dann natürlich am Stück und auf einen Rutsch.

Ich habe also in meinem mehr oder weniger aufgeräumten Wohnzimmer gesessen, alles, was ich zu tun gehabt hätte, schön an den Rand meiner Wahrnehmung geschoben, Herr Stromberg hat seine Mitarbeiter*innen schikaniert und ich hab Angry Birds gespielt. Oder Candy Crush. Oder was auch immer. Vielleicht 2048.

Achso, das sollte ich vielleicht erwähnen. Bei so einem Serienmarathon häng ich immer irgendwann am Handy. Ich hab eben eine kurze Aufmerksamkeitssp (Die mäßig witzige Bemerkung mit „Oh! Ein Eichhörnchen!“ spare ich mir an dieser Stelle. Aber so hieß eine StudiVZ-Gruppe, in der ich war… Good night, sweet StudiVZ, and flights of angels sing thee to thy rest!… Ich fühl mich alt.) anne.

Während ich so mit Vögeln auf Schweine geschossen oder Bonbons zusammengeschubst oder Kacheln aufeinander geschoben hab, musste ich auf einmal doch meine Aufmerksamkeit der Schadensregulierung M bis Z der Capitol Versicherung AG schenken, Fernbedienung suchen, zurückspulen.

Ich halte Bernd Stromberg sicher nicht für eine moralische Richtschnur, ein Vorbild oder sonst was in der Art, aber das, was er da grad gesagt hat und wahrscheinlich nicht mal ernst meint, merk ich mir.

„So’n schlichter Dank, eine einfache Anerkennung. Das ist so, als ob dir die ganze Seele einmal komplett durchgelüftet wird.“

Krass.

Ich hab mir das direkt noch mal angehört. Und nochmal.

Danke ist wie Durchlüften. So würde ich das ja nie formulieren. Aber ich weiß, was gemeint ist. Dieses Durchlüften-Gefühl kenne ich.

Da will man mal eben fünf Staffeln deutsche Comedy gucken und aus Versehen lernt man was über das Leben. Verrückt.

Ach übrigens: Danke, dass du dir die Zeit nimmst, das zu lesen.

(Wer mir das nicht glaubt: Stromberg Staffel3, Folge 4, „Der Protest“, ca. bei 11:28)

Beten statt Tun

„Wann sollen wir zum Renovieren kommen? Brauchst Du Hilfe bei den Vorbereitungen? Sollen wir was mitbringen?“ Das waren Fragen, mit der ich eine liebe Freundin unterstützen wollte, die gerade an einem coolen Projekt dran ist (sowas mit Kaffee, Keksen, Gott und Gemeinschaft).

Zurück kam: „Mitbeten ist gerade alles, was ich brauche.“ Ich gebe zu, da hab ich erstmal geschluckt. Und als dann noch jemand schrieb „Ja klar“, und ich erkennen musste, dass ich das war (macht man ja so als gute kirchliche Mitarbeiterin und Theologin), bin ich zusätzlich ganz ordentlich erschrocken. So als „Glauben in der Tat“-Mensch fallen mir die lebenspraktischen Dinge häufig leichter als fromme Worte zu gefalteten Händen. Helfen geht aber grundsätzlich immer und der Impuls hat da wohl gesiegt.

Das Ganze ist es für mich ein riesiger Denkanstoß… Wann hab ich eigentlich mit Gott das letzte Mal gesprochen (abgesehen von so kleinen Stoßgebeten à la „Bitte lass die Ampel grün werden / meinen geflickten Fahrradreifen halten / Das ist ja ein toller Sonnenuntergang – ach guck mal da, ein Vogel…“)?
Nun hab ich also versprochen, für jemanden und deren Herzensangelegenheit zu beten. Irgendwie ist man da ja schon verantwortlich, oder?

Also nicht dafür, dass es klappt, aber dafür, diejenige und ihr Projekt „vor Gott zu bringen“. Jetzt einfach nix machen, geht ja auch nicht – und renovieren ist grade nicht. Also beten. Herausforderung angenommen.

Es wird gut?

Egal was kommt, es wird gut, sowiesoImmer geht ’ne neue Tür auf, irgendwoAuch wenn’s grad nicht so läuft, wie gewohntEgal, es wird gut, sowieso Das Lied von Mark Forster hat mich in diesem Jahr auf der Ferienfreizeit begleitet.Wie gerne würde einfach dem letzten Satz glauben.Nein, es läuft gerade gar nicht wie gewohnt. Vor einer Woche … Weiterlesen …

Angst vor 18:00 Uhr

Da ich nun schon ein paar Jahre in Trier lebe, ist es – leider – alltäglich geworden von römischen Baudenkmälern umgeben zu sein. Wenig achtsam, manchmal ohne sie eines Blickes zu würdigen, passiere ich die Porta Nigra, die Kaiserthermen oder die Konstantinbasilika.

Aber es gibt immer wieder Tage, an denen ich bewusst stehen bleibe.

So auch heute. Seit einigen Minuten stehe ich vor der Konstantinbasilika.

Heute ist vieles anders als sonst.

Ich habe Angst. Genauer gesagt habe ich Angst vor 18:00 Uhr.

Die Konstantinbasilika erinnert mich daran, wie schnell sich die Politik ändern kann. Im dritten Jahrhundert wurden viele Christ*innen von den Römer*innen verfolgt, 313 hat Kaiser Konstantin der Große das sogenannte Mailänder Toleranzedikt unterzeichnet, nur einige Jahrzehnte später wurde das Christentum zur Staatsreligion.

So ist die Konstantinbasilika für mich nicht nur ein Meisterwerk antiker Baukunst. Sie ist auch eine steingewordene Lehrstunde über Politik.

Vielleicht ist mir die Basilika am heutigen Tag deshalb besonders nahe. Ich komme nicht damit klar, wie schnell sich Politik und Gesellschaft manchmal ändern. Vor sechs Jahren habe ich im Geschichtsleistungskurs ungläubig darüber gestaunt, wie rasant sich eine abartige Politik wie die NS-Ideologie in der Breite durchsetzen konnte. Heute muss ich mir um 18:00 Uhr von Bettina Schausten erklären lassen, dass eine Partei in den Bundestag einzieht, deren Spitzenkandidat von „entsorgen“ spricht, wenn er von einem Menschen redet, und die von „Stolz“ reden, wenn sie an die „Leistungen“ der deutschen Soldat*innen in Verdun und Stalingrad denken.

Heute wird mir um 18:00 Uhr ein blauer Balken mit einer Prozentzahl aufzeigen, dass es in Deutschland immer noch rechte Verführer*innen gibt, von denen sich zu viele Menschen verleiten lassen. Heute ab 18:00 Uhr muss ich vielen wunderbaren Menschen und Freunden in Kenia erklären, dass im höchsten Parlament meines Landes eine Partei sitzt, dich sich über „Neger“ und den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ auslässt. Ich könnte im Strahl kotzen! Ich könnte heulen!

Ich fühle mich machtlos. Auch wenn ich den Fernseher um 18 Uhr ausschalte, Bettina Schausten wird trotzdem reden und der blaue Balken wird viel zu hoch ansteigen.

So stehe ich jetzt hier. Ich hasse diese Machtlosigkeit! Ich kann mit diesem Gefühl nicht gut umgehen. Deswegen mache ich der Konstantinbasilika jetzt ein Versprechen. So wie ich mich an die vielen römischen Baudenkmäler in Trier gewöhnt habe und sie nur noch selten richtig wahrnehme, möchte mich nie daran gewöhnen, dass Extremist*innen im Parlament über mein Leben und meine Zukunft entscheiden.

Ich verspreche, Zeuge dafür zu sein, dass ich an Gott glaube, der jeden Menschen gleich geschaffen hat und der die Liebe ist.
Ich verspreche, dass ich für alle Parteien im Deutschen Bundestag beten werde.

Und jetzt gehe ich wählen.