Ein Freund bleibt ein Freund…

Nachtschicht auf dem Rettungswagen, gegen halb zwölf ruft uns der Melder zu einem Notfalleinsatz. Ein gestürzter Mann auf der Straße – die Passant*innen, die den Herrn umsorgend versuchen in der stabilen Seitenlage zu halten, berichten, er sei umgefallen wie ein Brett. – Kein Wunder, denn die zwölf großen Bier, von denen er berichtet, gingen nicht spurlos vorbei.

Es ist ein Klassiker: ein wohnungsloser Mann, nur einige Jahre älter als ich, nach einem Streit mit Verwandten hat er seinen Frust kräftig im Hopfensaft ertränkt. Während unserer Versorgung wiederholt er seine Fragen, und  schildert seine Eindrücke von dieser Welt und seinem Leben. Die Situation – in einem Rettungswagen liegend und nicht mehr wissend, was geschah – kränkt ihn,  ist ihm peinlich. Er weint. Ich hoffe, dass das Wechselbad der Gefühle nicht in Aggression umschlägt, wie es auch durchaus mal vorkommt. Klientelpolitik, bei der ich mich selbst erwische, da sie keinerlei Relevanz für die Versorgung und die Situation hat.

Wir reden ihm gut zu, wiederholen geduldig, fast mantraartig unsere Maßnahmen und unsere nächsten Schritte. „Ein Freund bleibt ein Freund“, sagt er immer wieder. Er glaubt, wir seien uns schon mal begegnet und fantasiert mich in abstruse Situationen seines Lebens.

In der Klinik hockt er in der Notaufnahme auf einer Trage und ruft mich zu sich, er bietet mir den Platz neben sich an, den ich etwas zurückhaltend doch einnehme. Dann stützt er sich mit dem Arm auf meiner Schulter ab und erklärt mir noch einmal „ein Freund bleibt ein Freund“ und bedankt sich per Handschlag für unsere Versorgung. Für die Klinik-Kolleg*innen ein etwas seltsames Bild: der rot-blau leuchtende Uniformträger nebst der Alkoholfahne, die wie zwei Freunde auf einer Mauer sitzen und über das Leben sinnieren. Einerseits mag ich diese Nähe nicht mit diesem fremden Menschen, andererseits sehe ich, dass es ihm gut tut – und mir nicht weh.

Für mich eine kurze Begegnung, eine Mission, die mir wieder einmal zeigt wie die in unserer Gesellschaft, in unseren Vorurteilen, in unserer Welt untergehen, die wenig bis nichts haben. Ihre Wünsche nach einem „normalen“ Leben, nach verlässlichen Freund*innen – wer kennt sie nicht? Ich wünsche, er findet ihn*sie: der*die Freund*in, der*die ein*e Freund*in bleibt.

Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.

Geschenkewahnsinn

Ok. Ich bin auch wirklich nicht allzu früh dran und es ist gar nicht mal mehr so viel Zeit bis zum 24. Dezember. Gestern war Halbzeit. Die Woche sowieso voll. Bis oben hin. Muss ja doch noch alles in diesem Jahr passieren. Keine Ausreden. Würde auch gern mal Pause machen. Aber weiter. Hier bestellen. Da ist ein Angebot. Hier nochmal über jenes Geschenk nachdenken. Tun ja irgendwie alle. Alle. Jede*r. Wäre doof, wenn kein Geschenk für andere, obwohl ich ein Geschenk bekomme. Kann man ja nicht machen. Macht man ja nicht so. Vielleicht. Also wenn dieser man das nicht macht, dann sollte ich das auch so handeln. Ich. Dreh. Durch. Stopp. Jetzt.

Wo ist die Würde?

Ankunft bei mir selbst

WER BIST DU WIRKLICH?

Ich wusste es lange nicht. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.
Und dann stellt mir diese (tolle!) Serie diese blöde Frage.
Eine Frage, die mitten in mein Leben trifft.
Eine Frage, die nur ich mir beantworten kann.
Eine Frage, die ich mir beantworten muss.

Und hier wird es schwierig.
Was macht es mir so schwer diese Frage zu stellen?
Was macht es mir so schwer diese Frage zu beantworten?
Klar. Ich.

Transparent – die Serie – erzählt die Geschichte der kalifornischen Familie Pfefferman. Mort Pfefferman (der Vater) beschließt nun als Maura weiterzuleben und eröffnet dieses Geheimnis den erwachsenen Kindern. Diese irren ziemlich ziellos durch ihr Leben und stürzen sich während der Serie von einem Extrem ins andere. Allen wird im Verlauf der Serie immer klarer, wer sie künftig sein möchten.

Eine schöne Vorstellung.

WER BIST DU WIRKLICH?

Die ganze Familie geht auf die Suche nach ihren Antworten.
Jeder ist für sich auf seiner eigenen Reise.
In viele kleinen Momenten der Serie erkenne ich mich wieder.
Vor allem in denen, in denen Unsicherheit und Angst das eigene Handeln lähmen.
Das eigene Leben blockieren. Stillstand auslösen.
Ich mag keinen Stillstand.

Also: WER BIST DU WIRKLICH?

Die Antwort auf die Frage hat mich in Bewegung gesetzt und den Stillstand beendet.
Über die Gefühle der Unsicherheit und Angst legen sich Selbstsicherheit und Freude.
Selbstsicherheit, etwas in Angriff zu nehmen und Freude über das,
was das Leben noch bereithält .

Und: Ankommen.

Transparent – Offizieller Trailer – Staffel 1 Deutsch | Amazon Originals

Würd‘ ich…

Würd’ ich doch endlich mal wieder an den See fahren – wird aber eben nicht gemacht. Stattdessen lebe ich einfach so vor mich hin, mit allen Aufgaben, die das Leben so bereithält. Ich plaudere und lache, mache Dinge, die mir Spaß bringen, aber eben nie das, was ich gerne machen würde, zwischen all dem Sollte und Müsste.

Zeit für die Dinge, die mir wirklich etwas bedeuten, die habe ich scheinbar nicht. Die nehme ich mir nicht. Wieso auch? Es gibt noch so viel Zeit diese Dinge zu tun.
Später, morgen oder nächste Woche vielleicht. Jetzt, da gibt es anderes zu erledigen.

Und dann, dann sitze ich immer wieder da und frage mich, was ich verpasst haben könnte zwischen all dem, was getan werden soll und getan werden muss. Denn hätte ich mir mal die Zeit genommen, um an den See zu fahren, dann gäbe es auch in noch so kalten Wintern und in noch so vereisten Zeiten einen tiefen Atemzug, in dem ich spüren könnte: Ich bin noch da.

Zwischen all dem Stress und zwischen all dem Sollen und Müssen, da bin ich immer noch ich und es gibt Gründe, warum ich bin.

Lieber Bischof,

Lieber Nikolaus,

ich weiß nicht, ob ich es dir mal so bewusst gesagt habe, aber eigentlich bist du schon einer meiner liebsten Heiligen. Klar ist das jetzt ein bisschen Mainstream, wer mag dich denn nicht? Da geht es dir ja wie St. Martin, dich findet doch jeder cool.

Zugegeben, es ist auch keine revolutionäre Idee dir einen Brief zu schreiben, sicherlich wirst du gerade von Kindern mit Briefen, Bildern oder anderen Basteleien überschüttet.

Heute, an deinem Gedenktag, will ich es trotzdem einmal tun. Ich bitte dich sehr diesen Brief zu lesen, denn ich möchte dir etwas Wichtiges sagen.

Ich möchte nämlich keine Geschenke oder dir etwas Besonderes von mir erzählen. Trotzdem ist dieser Brief eine Art Wunschzettel.

Als Kind habe ich dich natürlich schon immer toll gefunden, mittlerweile habe ich sogar verstanden, warum ich dich immer noch tolle finde. Ich würde gerne mehr und mehr werden wie du.

Ok, der Bart und die Haare müssten nicht sein. Auch ist es nicht nötig, dass alle Menschen anfangen zu singen, wenn sie mich sehen.

Ich muss auch kein Kornwunder vollbringen können, auch wenn es natürlich schön wäre.

Viel mehr würde ich gerne ein anderes Wunder von dir lernen.
Ich würde gerne allen Menschen immer mit Respekt und Freude begegnen.
Ich würde gerne überall, wo ich auftauche, Freude in die Augen von Menschen zaubern.
Ich würde gerne lernen ein Mensch zu sein, der, wo er auch hinkommt, Not sehen und lindern kann.

Ja, vor allem würde ich gerne ein Mensch sein, der Herzen aus Stein verwandeln kann.
Vielleicht übertreibe ich gerade ein bisschen, und du konntest auch mal ein Griesgram sein.

Aber bestimmt hast du da einen guten Trick auf Lager.
Ich denke, wir sollten bezüglich der guten Vorsätze für das neue Jahr weiter korrespondieren.

Liebe Grüße,
dein Michael

Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.

Würd‘ ich anders machen?

Das Jahr neigt sich mit der Adventszeit langsam dem Ende zu. 2017 war für mich ein turbulentes und aufregendes Jahr. Vieles hat sich verändert. Vieles hat sich gefestigt und vieles steht noch offen.

Heute vor einem Jahr stand ich noch auf wackligen Beinen und hatte Angst zum Ende zu kommen. Die Mosel hat mir beigebracht, dass Schleifen zu schlagen auch mal gut tut. Ich habe Held*innen verloren und das Chaos regieren lassen.

Einiges ist einfach passiert. Vieles habe ich selbst so entschieden. Nie die riesen Entscheidungen, aber auch nie wirklich einfache. Schritt für Schritt bin ich da angekommen, wo ich jetzt bin.

Würd‘ ich es anders machen?

Sicher einiges, aber wer weiß, wer ich dann jetzt wäre.

Ein Satz im Winter

Urlaub. Endlich. Wandern, Couchen, leckeres Essen, liebe Menschen. So der Plan. Dazu kommt noch Schnee und eine traumhafte Winterlandschaft. Herrlich. Am letzten Tag steht ein älterer Mann am Straßenrand und hält den Daumen raus. Mitten im Schneematsch. Wir nehmen ihn ein Stückchen mit.

Er steigt ein. Zusammen mit einem Strauß aus Tannengrün und Mistelzweigen. Auf den paar Metern, die wir zusammen fahren, erzählt er uns, dass seine Frau einen Blumenladen hatte und er von ihr gelernt hat, Weihnachtsgestecke zu machen. Das macht er jetzt und denkt dabei an sie. Von sich erzählt er fast nichts, nennt nur seinen ehemaligen Beruf und dann sind wir auch schon da.

Er steigt aus, wir geben uns die Hand und dann sagt er einen Satz, der mir in den nächsten Tagen wohl nicht aus dem Kopf gehen wird. Ohne mich zu kennen, sagt er was, das mich so tief drinnen trifft, dass ich erstmal Luft holen muss. Und das im Schnee. Derart kitschig, dass es fast nicht zu glauben ist. Und gleichzeitig so wahr, dass es auf keine Postkarte passt.

Dafür liegen jetzt zwei Zweige Misteln in meinem Auto.