Wofür will ich Vorbild sein?

Wann bin ich ein gutes Vorbild? Diese Frage beschäftigt mich, seitdem ich vor drei Jahren Vater geworden bin – und in diesem Jahr ganz besonders. Grund dafür war die MHG-Studie oder wie sie ungeschönter im Ganzen heißt: „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.

Ich bin zwar kein Beschäftigter der katholischen Kirche, aber heruntergebrochen besteht der größte Teil meiner Arbeit darin, die Kommunikation kirchlicher Institutionen zu verbessern, um eben wieder Menschen zu erreichen. Ich werbe für den Glauben und ich helfe beim Werben für die Kirche.

Die Frage nach der eigenen Vorbildrolle ist für mich die Frage nach der Übernahme von Verantwortung für meine Handlungen. Ich weiß nicht, wie ich diesen Konflikt auflöse. Ich weiß aber, dass ich mit meiner Arbeit in der Gegenwart Zukunft gestalte. Dass ich mit dem, was ich tue, zeige, was ich für richtig halte.

Ich bin sicherlich nicht immer das beste Vorbild, aber ich weiß, dass wenn ich meiner Tochter zeigen will, wie es auch anders geht, ich nicht bei dem bleiben kann, was gerade ist.

You can’t be what you can’t see.


Marian Wright Edelman – Gründerin und Vorsitzende der Children’s Defense Fund

Den Blick nach oben

Beim Überlegen, worüber ich diesen kleinen Beitrag schreibe, schweift mein Blick entlang der Bilder an meiner Wand und ich bleibe an einem Bild aus dem Zeltlager hängen. In mir wird ein Moment wach, wie in einer warmen Sommernacht die Hitze in den Zelten nicht auszuhalten ist. Kurzerhand wurde unter freiem Himmel geschlafen.

Auch wenn das im kalten Dezember schwer vorstellbar ist, so fangen meine Gedanken an um diesen Moment zu kreisen:

Ich weiß noch genau, wie ich damals auf dem Rücken lag – fasziniert von dem atemberaubenden Sternenhimmel. Ein faszinierendes Glitzern und Funkeln und auch immer ein Blick in die Vergangenheit. Denn bis das Licht eines Sterns am Himmel sichtbar wird, hat es schon mehrere Jahre zurückgelegt. Vielleicht ist der Stern schon längst verglüht, obwohl ich gerade erst sein Licht sehen kann.

Ob ein Stern schon verglüht ist, ob er noch strahlt und von wie weit entfernt er zu mir scheint, konnte ich, sowie ich damals auf dem Rücken lag, nicht wissen. Aber ich kann immer wieder staunend die Momentaufnahme betrachten und mich mitreißen lassen von dem Licht, dass mich jetzt gerade erreicht.

Alltagstreiben

Ich fühle mich manchmal angetrieben. 
Von Erwartungen, die an mich herangetragen werden. 
Von Erwartungen, die ich mir selbst auferlege. 
Von der Zeit, die so schnell vergeht. 
Von dem Zwang jeden tag zu nutzen und so zu leben, als könnte morgen alles vorbei sein. 

Manchmal bin ich aber auch selbst Antreiberin:
… weil es mir noch nicht reicht, was ich an diesem Tag geschafft habe.
… weil meine Mitmenschen mit meinem Treiben nicht mithalten. 
… weil ich will, dass sich etwas bewegt und es mir einfach nicht schnell genug geht. 

Und dann ist da diese Frage: Lasse ich mich zu sehr treiben? Sind zwei Abende mit zwei guten Filmen ganz gemütlich auf meiner Couch vertane Zeit? Warum hab ich in der Zeit nicht was aus meinem Leben gemacht, etwas erlebt oder bewegt?

Angetrieben, antreiben, mich treiben lassen.
Alle drei sind ein Teil von mir. Ich kann jedes davon und ich bin jedes davon manchmal leid. 
Und dennoch bin ich auch über jedes davon froh!
Froh, dass es Menschen gibt, die mich begeistern, anstecken, eben antreiben. 

Froh, dass ich Menschen begeistern und anstecken, eben antreiben kann. 
Froh, dass es Momente gibt, in denen Ruhe, Durchatmen, mich-einfach-mal-treiben-Lassen einen Platz haben dürfen.

Maßvoll

Dunkelheit. Wenige flackernde Lichter. Ich sitze auf einer Bank. Meine Gedanken kreisen.

„Du schaffst das!“ „Halte durch!“ „Du bist so kurz vor der Ziellinie, los, komm schon!“

Was, wenn ich es nicht schaffen will? Was, wenn ich entscheide aufzugeben? Ständig scheint mein Umfeld zu schreien, du brauchst mehr, mehr Arbeit, mehr Geld, mehr Mode, mehr Freund*innen, mehr Connections, mehr Events, mehr Leben.

Ich bin voll. Mein Maß ist voll – nein es ist übervoll. Seit Monaten ist es übervoll.

Und ich frage mich, wo ist eigentlich ein Platz fürs Scheitern? Fürs Aufgeben? Für unerfüllte Pläne? Für nie wahrgewordene Hoffnungen und Wünsche? Solche Geschichten möchte eigentlich niemand hören. Vielleicht wegen der Angst vor den Gefühlen, die sich dann einstellen. Leere, Trauer, Einsamkeit.

Auf meiner Bank laufen mir ein paar Tränen die Wange herunter. In den Schmerz mischt sich aber auch eine tröstliche Erkenntnis. Ich bin angenommen, genauso wie ich bin. Ich muss nichts leisten, nichts besitzen, nichts vollbringen, ich reiche aus, genauso wie ich gerade hier bin. Manchmal kann ich diese Botschaft nicht nur denken, sondern auch fühlen. Ein Weihnachtsgefühl. Mein Weihnachtsgefühl. Schon heute.

Halbzeitpause

Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich Fußball gespielt. Zugegebenermaßen war das nie von sonderlich viel Erfolg gekennzeichnet, im Gegenteil. Ich war der Spieler, der seinen Platz auf der Ersatzbank nur dann aufgeben musste, wenn nicht genügend Mitspieler zum Spiel da waren. Kam es einmal zu dieser Katastrophe, galt die Devise möglichst den Ball zu meiden, dafür aber mit selbstbewussten Antritten und Laufwegen den Gegner zu verwirren, um so Räume für die eigenen Mitspieler zu schaffen. Meistens ist diese Taktik nach zwei Minuten aber aufgefallen, sodass ich den Rest der Zeit mit sinnlosem Hin- und Herlaufen verbracht habe.

So galt es die Spielzeit bis zur Halbzeitpause totzuschlagen. Diese schöne Zeit, die man in der Kabine verbringt, ohne die Sorge zu haben, mit weiteren Peinlichkeiten auf dem Platz aufzufallen.

Halbzeit. Eine wunderbare Zeit. Dabei war die Kabine unter den Maßstäben eines geschlossenen Raumes meist mindestens genauso hässlich wie mein Fußballspiel; zu klein, zu kalt, zu stinkend. Aber sie wurde zum Sehnsuchtsort, weil das Spielen meist noch schlimmer war.

Heute hat der Advent Halbzeit. Vieles habe ich mir für diese Zeit vorgenommen. Die Zeit etwas bewusster gestalten, mehr Zeit für mich und das Gebet nehmen, sozial aktiver sein, auf andere Menschen mehr Rücksicht nehmen. Vieles davon ist bisher etwa so erfolgreich gelaufen wie mein Fußballspiel. Leider ist der Advent auf den ersten Blick unbarmherziger als ein Fußballspiel. Es gibt keine Kabine, keine Halbzeitpause.

Aber dafür gibt es etwas anderes: Die Hoffnung, dass das alles nicht so aussichtslos ist wie mein Versuch, Fußball zu spielen. Ich will hoch von der Ersatzbank meines immer wieder zu trägen Menschseins, ich will raus auf den Platz.

Funkelnde Augen

Ein Kind sitzt mit leuchtenden Augen im Weihnachtszimmer. Weihnachtsbaum, Krippe, Lichter, Kugeln, Kerzen, Geschenke, der Duft von Tannen und Plätzchen, Musik. Die Schönheit dieses Raumes und die Atmosphäre, die all das umrahmt, überwältigen dieses kleine Wesen, das noch so wenig von der Welt kennt.

Ich erwische mich selbst auch immer mal wieder dabei, wie mir das Funkeln in die Augen steigt. Ganz oft geht es mir so, wenn ich meine Lieblingsmusik höre. Oder Musik, die ich ewig nicht gehört habe und die mich an besonders schöne Ereignisse im Leben erinnert. Genauso funktionieren aber auch gute Nachrichten. Wenn ich höre, dass ein Kind gesund zur Welt kam oder dass jemandem ganz unterwartet etwas Wundervolles passiert ist.

Das Funkeln in meinen nicht mehr wirklich kindlichen Augen, es ist immer noch da. Und ich möchte es mir auch unbedingt bewahren.

Ich will es mir nicht vom Alltag als erwachsene junge Frau, von der vielen Arbeit oder den schlechten Nachrichten kaputt machen lassen.

Ich will ein Stück Kind in mir bewahren.

Mein Leben lang etwas von dem kindlichen Urvertrauen in die Menschen in mir erhalten.
Mein Leben lang etwas von meinen Kindheitsträumen im Blick behalten.
Mein Leben lang ab und zu mit kindlich funkelnden Augen und erfüllt von einer großen Hoffnung unterwegs sein.

Und sollte ich einmal vergessen, wie groß es ist Kind zu sein. Dann schau ich in die Krippe. Jene, in der das Größte aller Kleinen gelegen ist. Ich schaue in seine funkelnden Augen, lass mich von den Träumen anstecken, die er für die Menschheit hatte, und lasse mich von der Hoffnung ergreifen, die er uns in diese Welt gebracht hat.

Wenn ich jetzt nur daran denke, dann fangen meine Augen schon ein bisschen an zu funkeln.

Eine Fahrt für den Weltfrieden

Ich fahre gerne mit Mitfahrgelegenheiten und lerne dabei immer neue Leute kennen. Die Begegnung auf meiner letzten Fahrt nach Freiburg begann wie einer dieser schlechten Witze. 

Ein deutscher Kurde, gerade erfolgreich seinen Hauptschulabschluss auf der Abendschule gemacht, gläubiger Muslim. Eine Tunesierin, Assistenzärztin und seit wenigen Monaten in Deutschland, glaubt an Gott, sieht sich aber nicht in einer Religion gebunden. Und eben ich, ein katholischer Religionslehrer. Wir drei in einem Auto und mehr als zwei Stunden gemeinsame Fahrt. Wir drei leben in völlig unterschiedlichen Welten, wurden unterschiedlich sozialisiert und haben für einen kurzen Augenblick ein gemeinsames Ziel: Freiburg. Ansonsten gehen unsere Vorstellungen mal mehr mal weniger weit auseinander. 

Mit der Tunesierin bin ich mir einig über die negativen Seiten von Religion und warum sich Menschen auch abwenden können, wenn sie bspw. als Frau systematisch diskriminiert werden. Für sie gilt als Ärztin aber auch stets der Primat der Wissenschaft. Ganz anders mein zweiter Mitfahrer. Viele würden ihn als naiv gläubig beschreiben. Er fordert uns allerdings auch heraus, indem er ganz selbstverständlich Allah als den Schöpfer der Erde in sechs Tagen sieht und keinen Zweifel an der lenkenden Hand Gottes im Leben aller Menschen zeigt. Eine lebendige Diskussion entsteht über Vorstellungen von Leben nach dem Tod, Himmel und Hölle, Allah, Prophet*innen usw.

Dann schweigen wir eine Zeit lang. Alles wurde gesagt und die Standpunkte scheinen klar zu sein. Ich denke mir, dass in einem Witz jetzt die Pointe kommen müsste. Treffen sich drei Fremde in einem Auto und dann etwas Unvorhergesehenes. Wir nähern uns Freiburg und zum ersten Mal auf der Fahrt hört es auf zu regnen. Der Himmel öffnet sich und die Sonne glitzert durch einen kleinen Spalt in der Wolkendecke.

Wir reden weiter, doch diesmal geht es um das Leben, den Umgang mit den Mitmenschen, Moral und kurz bevor wir ankommen sind wir uns einig: Alle Menschen sind gleich. Unsere Vorstellungen von Religion, Glauben und Gott gehen wahrscheinlich zu weit auseinander. Letztlich bleiben wir bei diesen Themen auch immer Suchende und Fragende. Wenn es aber um das konkrete Leben auf der Erde und in unserem Auto geht, dann wollen wir Frieden und gleiche Rechte für alle.

Tage danach

Eigentlich müsste es doch schon längst da sein. Eigentlich müsste es doch schon längst passiert sein. Was genau? Kann ich nicht sagen. Aber manchmal packt mich dieses ungute Gefühl, dass gerade eigentlich etwas anderes dran wäre.

Dass jenes, womit ich gerade beschäftigt bin, nicht das ist, womit ich gerade beschäftigt sein sollte. Ganz ohne Gegenvorschlag. Ohne aufzuhören mit dem, was ich jetzt mache.

Und dann: Tage danach packt es mich. Dann fällt mir etwas ein, was so präzise ist, dass es unmöglich plötzlich in meinen Sinn kommen konnte. Tage danach fällt mir auf, dass ich bereits die ganzen Tage daran gearbeitet habe.

Ab jetzt 100 Sekunden

„Wann hast du das letzte Mal bis 100 gezählt?“ Diese Frage kam mir letztens in den Sinn, als meine kleine Tochter stolz präsentierte, wie weit sie schon zählen konnte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie utopisch hoch die Zahl 100 damals war. Bis 100 zu zählen war ein heroischer Akt, den irgendwie nur die ganz Großen schon konnten.

Das Verrückte daran ist ja, dass ab dem Moment, in dem es mir möglich war so weit zu zählen, ich es nicht mehr getan habe. Ich erinnere mich nicht daran, wann ich das letzte Mal bis 100 gezählt habe. Und wenn ich jetzt daran denke, dass ich bis 100 zählen sollte, dann sag ich mir: „Kann ich ja.“ und zähle innerlich (mindestens) 100 Gründe auf, warum es jetzt total bescheuert wäre bis 100 zu zählen.

Irgendwie aus einer Laune heraus habe ich es dann aber doch mal angefangen. Einfach so von 100 runtergezählt. Beim ersten Mal war es noch schwierig. Viele Gedanken wollten sich dazwischen drängen. So habe ich auch das ein oder andere Mal den Faden verloren. Doch mit jedem Mal ging es besser.

So gut, dass ich jetzt immer wieder, wenn meine Gedanken kreisen, wenn der Fokus ausbleibt oder es um mich zu viel wird, die Augen schließe und von 100 runterzähle. Einmal die Gedanken resetten und dann von dem entdecken lassen, was da ist.