Das Gleichnis der Zeitungsrolle

Wenn man zehn Monate verheiratet ist, dann häufen sich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis die vorsichtigen Fragen, wie es denn mit dem Thema Schwangerschaft aussieht. Nun gibt es tatsächlich neues Leben bei uns Zuhause zu verkünden, wenn auch nicht unbedingt so, wie vielleicht gerade erwartet wird.

In unserer Zeitungsrolle hat sich ein Rotschwanz ein Nest gebaut, fünf Junge sind geschlüpft und sorgen tagtäglich beim Ein- und Ausgehen für eine laute Begrüßung.

Hemmungslos schreien sie alle vorbeigehenden Hausbewohner*innen an, ohne Rücksicht auf morgendliche Müdigkeit, Telefonate oder Gespräche.

Auch so mancher Besuch hat sich schon erschreckt. Nicht nur der Lautstärke wegen, auch fliegt der Rotschwanz gerne mal haarscharf an Besucher*innen vorbei, die an der Haustür warten, gezielt in die Zeitungsrolle.

Mittlerweile ist unsere Zeitungsrolle eine kleine Attraktion geworden. Kinder aus der ganzen Nachbarschaft schauen regelmäßig in die Rolle und begutachten, wie groß die Vögel denn heute schon geworden sind. Ein Kind stellte dabei gestern mit großer Irritation fest: „Die machen ja gar nichts! Die sitzen einfach nur da, schreien ‚rum und bekommen ständig Essen gebracht!“

Eine ältere Frau, vielleicht die Oma, fragte: „Ja, und?“

Darauf wieder das Kind: „Die tun so als wären sie Könige! Aber es sind doch nur Baby-Vögel!“

Darauf erklärte die Oma: „Ach weißt du, die Vögel sind klein und schwach. Sie können noch nichts anderes als schreien und essen. Bald lernen sie fliegen, und bis dahin werden sie gefüttert und versorgt. Ihre Mama liebt sie und tut alles für sie. Für die Vogel-Mama sind die Kleinen richtige Könige, einfach nur weil es sie gibt“

„Einfach nur, weil es sie gibt?“

„Einfach nur, weil es sie gibt!“

Ich halte dich nicht fest

In dem Moment, in dem ich losgefahren bin, hatte ich schon keine Lust mehr. Vor mir lagen sechs Stunden Autofahrt – drei hin und drei zurück. Es war ein Montagmittag, als ich für eine Besprechung zur Autobahnkirche Baden-Baden aufbrach. Das Treffen klang vielversprechend, das unangefangene Hörbuch (Känguru Offenbarung) machte es erträglich, doch der Regen und das orientierungslose Fahren durch die Pfalz nahmen mir jede Freude. Umso dankbarer war ich, als mich das erste Schild auf die Autobahnkirche hinwies. Da bin ich.

Während der Fahrt und auch schon davor bei der Reiseplanung musste ich immer wieder schmunzeln. Wie verrückt es doch ist: Eine Raststätte als Zielpunkt ins Navi einzugeben. „Was machst du heute so?“ – „Och, ich fahre zu einer Raststätte.“ Ein verrücktes Bild, aber passend zu dem, wie sich die Autobahnkirche Baden-Baden präsentiert: Als Pyramide. Mitte in Baden-Baden. Direkt an der Autobahn. Neben einer kleinen Raststätte, einem Motel und hunderten parkenden LKWs. Eine Pyramide auf einem Sockel.

Drinnen spannt sich ein Zelt auf. Drumherum nur Glasfenster. Jeder Zentimeter ist gesäumt von Symbolen. Nichts hier sagt mir: „So muss es sein.“ Alles sagt mir: „Finde es heraus! Suche! Entdecke!“ Symbole, die auf ein Mehr verweisen – die Richtung vorgeben, nicht die Interpretation liefern. In diesem Raum hätte ich mich verlieren können.

Das Gespräch lief gut und damit auch die Gewissheit, dass ich diesen Ort wohl noch öfter besuchen werde. Zeit für die Rückfahrt.

Es ist schon verrückt eine Raststätte als Reiseziel zu haben, es ist gut zu wissen, dass ich nochmal wiederkomme und es ist beruhigend, dass dieser Ort einfach da ist. Mich nicht festhalten möchte, von mir nichts einfordert. Er ist einfach da und ich werde wiederkommen. Freiwillig.

Aufstehn

Seeed - Aufstehn (official Video)

Die Sonnenstrahlen brechen durch die Rollos deines Zimmers.
Du erkennst sie blinzelnd. Stechen in deinem Kopf.
Den Geschmack der letzten Nacht auf der Zunge.

Dein Wecker beginnt den Tag. Unnachgiebig piepst er. Will, dass du ihn drückst.
Du tust es. Aber nicht so zärtlich. Eher so genervt. Eher so mit voller Kraft.
Mit deinem alten Wecker wäre es gegangen, aber deinem Handywecker ist es egal, ob du draufhaust.
Du drehst dich zur Seite, entsperrst den Wecker. Kein Snooze.

Du solltest endlich aufstehen. Die Rollos hochziehen. Dich bereit machen.
Kopfschmerzen vergessen und in den Tag starten.

Die Welt wartet auf dich.
Es könnte der beste Tag deines Lebens werden.

Wer bin ich eigentlich, wenn keine*r guckt?

Es rotiert Prinz Pi – Im Jetzt ist das Chaos in Spotify. Und die Gedanken kreisen:

Wer bin ich eigentlich, wenn keine*r guckt?

Wenn ich mit mir alleine bin.
Wenn gerade keine*r mit mir redet.
Wenn ich gerade an keine*n denke.
Wenn keine Benachrichtigung mich an was erinnert.
Wenn ich einfach alleine mit mir bin.
Wenn keine*r guckt.

Wer bin ich eigentlich, wenn keine*r guckt?

Am Anfang war die Maske nur gemalt.
Und dann haben alle mich genauso kennengelernt.
Ohne Makel – die habe ich überschminkt.
Ohne Fehler – die habe ich geheim gehalten.
Ohne Probleme – die interessieren nicht.

Am Anfang war die Maske nur gemalt.
Und die Farben waren die Waffen meiner Wahl.
Doch die Farben bleiben
und die Maske sitzt fest.

Wer bin ich eigentlich, wenn keine*r guckt?

Wenn keine*r was sagt.

Wenn ich nur mich selbst hören kann.

Alex, auf uns!

Es ist Abend geworden, ich schenke mir ein Glas Wein und erfreue mich an dem Berg Wäsche, der darauf wartet von der Leine genommen, zusammengelegt und verstaut zu werden. Ich warte darauf, dass das Telefon schellt – und der ersehnte Anruf bimmelt im Messenger durch: es ist Alex! Vor vielen Jahren während des Studiums lernten wir uns kennen – als zusammengewürfelte Besatzung eines Krankenwagens mit der Mission, einen Schlaganfall-Patienten in der Nähe von Paris abzuholen. Das war 2011. Heute, 2018, fahren wir nicht mehr zusammen Krankenwagen international – aber schaffen es dennoch, obwohl uns viele hundert Kilometer Weg und viele verschiedene Perspektiven und Einstellungen zum Leben trennen, aneinander zu denken, sich zu fragen, was im Leben des anderen abgeht, was ihn bewegt – und bleiben angetrieben von der Sehnsucht, mal wieder ein Bierchen zu trinken und über unsere erste  gemeinsame Krankenwagen-Fahrt zu philosophieren. Dies ist ein phänomenales Gefühl, das eine tiefe Dankbarkeit und besondere Verbundenheit auslöst. Also Alex, nicht die Aussicht auf das Bier! 😉

Die Wäsche blieb dann doch größtenteils liegen, während wir telefonieren. Die Prioritäten verschieben sich. Die Wäsche läuft nicht weg – Alex schon, wenn man nicht aufpasst. Es tut mir gut, sich Zeit zu nehmen. Für Alex, für uns. Und ein Glas Wein, auf uns!

Zu spät

Manchmal ist einfach alle zu spät. Zu spät für ein ordentliches Frühstück. Zu spät, um eine Entscheidung zu überdenken. Zu spät, um überhaupt zu entscheiden, nur noch die Zeit zu handeln.

Manchmal lebt mein Leben sich ohne mich und es ist zu spät noch auf diesen einen Zug mit aufzuspringen. Lieber nebenherlaufen. Hoffen, dass er nochmal anhält.

Manchmal ist eben alles zu spät und ich verpasse Dinge. Fristen. So kommt dieser Eintrag erst Montagmittag statt Sonntag früh. Doch um das zu ändern ist es jetzt auch zu spät.

Zeit für ein Wendemanöver. Zurück zum Agieren, statt stets zu reagieren.

Früchte nach dem Brennen

Ich liebe Whisky. Keine Angst, nicht flaschenweise, nicht im Übermaß und nicht jeden Tag. Aber zu Besonderheiten. Ich mag die Komplexität des Geschmacks. Das Karamell, die Vanille und die sanften Früchte, vor allem, wenn die Birne sich erschmecken lässt. Gerne auch mal so einen richtig Rauchigen. Wie der eine bekannte Whisky von Islay, der so richtig die Algen, das Meersalz und den Torf der Landschaft auf die Zunge bringt.

Mit jedem neuen Whisky, den ich probiere, und jeder Tastingkarte, die ich dazu lese, entschlüsselt sich die Komplexität des Geschmacks. War der erste Whisky noch brennend, undifferenziert und verbarg seine Geschmäcker hinter einer nebulösen Wand von zu vielem, habe ich gelernt genauer hinzuschmecken. Zu differenzieren.

Ich habe gelernt Dinge zu schmecken. Indem ich an allen Dingen gerochen habe, gelesen habe, was andere schmecken, nachgeprüft habe, ob ich das auch schmecken kann und mich immer wieder aufs Neue auf die Suche gemacht habe.

Jetzt besteht Whisky für mich aus tausend Geschmäckern.
Jetzt erst, obwohl schon seit dem ersten Schluck alles da war.

Aber schau nie im Zorn zurück…

Nach dem schrecklichen Attentat am 22.05.17 in Manchester versammeln sich die Menschen zu einer Schweigeminute in der Innenstadt.

Stille.

Doch ganz leise durchbricht ein leiser Gesang die Schockstarre, in der sich viele befinden.
Nach und nach stimmen immer mehr Menschen in das Lied mit ein, singen erst zögerlich und dann immer selbstbewusster die bekannten Textzeilen mit.

Ein Lied, das eigentlich einer verflossenen Liebe gewidmet ist, wird plötzlich zu etwas Größerem.
Es vereint die Menschen in diesem Moment in ihren unzähligen Emotionen.

„But don’t look back in anger
I heard you say -“

„Aber schau nie im Zorn zurück,
hörte ich dich sagen“

Heute an Silvester laufen die Bilder des Jahres 2017 vor meinem inneren Auge ab.

Und dabei lassen mich diese Textzeilen nicht los.
Wenn ich genau überlege, möchte ich eigentlich genau das, was diese kurze Textzeile ausdrückt.

Nicht im Zorn zurückblicken…

Ich ärgere mich oft und viel. Und ich lasse meinem Ärger auch viel zu oft Raum –
Raum, den er überhaupt nicht verdient.
Wenn ich auf 2017 zurückblicke, dann bitteschön auf die Dinge, die mein Herz erfreut haben.
Momente, die mich berührt haben und die mich heute noch mit einem Lächeln erfreuen.

Nicht im Zorn zurückblicken…

Zögernd und dann immer selbstbewusster.

Manchester crowd sing Oasis song after minute's silence

Aufmachen.

Ein beliebtes Motto für jeden Kindergottesdienst in der Adventszeit. Aufstehen, losgehen, Licht sein. Ein Kinderspiel.

In einer Welt, die oft so finster scheint, so friedlos und kalt, so lieblos und resigniert. In dieser Welt soll ich ein Licht sein?

Immer wieder lese ich von der Hektik und dem Stress vor dem Weihnachtsfest und jetzt beschäftigt mich noch zusätzlich der Gedanke, ein Licht sein zu sollen, das die Dunkelheit hell macht.

23. Dezember und ich bin wie viele zu diesem Tag vor Weihnachten gerast, gefühlt geflogen. Jetzt durchatmen. Habe ich alle Geschenke? Was muss noch für das Essen eingekauft werden? Immer noch brennen nur drei Kerzen auf dem Adventskranz, irgendwas ist komisch dieses Jahr.

Ich will mir vornehmen, die letzte Kerze heute Abend ganz bewusst anzuzünden. Das klingt kitschig, aber vielleicht brauche ich das. Vielleicht nehme ich mir auch vor, kurz still zu sein. Das klingt albern, aber vielleicht brauche ich das. Wann habe ich das letzte Mal gebetet?

Ich wäre wirklich gerne ein Bote dieses Lichts. Ich will erkennen, wo mich Gott in dem Mitmenschen um mich herum anblickt. Ich will hinsehen, wo meine Hilfe nötig ist. Ich will die Dunkelheit hell machen.

Ich freue mich auf Weihnachten.