Ein Lied, das ich nicht verstehe

Ben Hofer - Du und I - Die Standesbeamtin Soundtrack

Die schweizerische Liebeskomödie „Die Standesbeamtin“ (Was für ein romantischer Name) beginnt mit dem Lied „Du und I“. Eine, wenn man den Text versteht, sicher sehr schnulzige und herzzereißende Liebesballade. Passend zum Film. Wenn man den Text versteht? Korrekt. Denn der ganze Film ist auf schwizerdütsch. Heißt für mich: Ich verstehe kein Wort. Also das ist jetzt auch übertrieben: Ein zwei Happen verstehe ich schon, aber ohne Untertitel hätte ich mir genauso gut auch einen französischen Film anschauen können.

Seitdem ich den Film 2010 in der SneakPreview gesehen habe, geht mir das Anfangslied „Du und I“ nicht mehr aus dem Kopf. Immer mal wieder stoße ich darauf und höre es mir in Dauerschleife an. Es hat zum einen etwas beruhigendes , zum anderen, und an dieser Stelle könnte man mich für verrückt halten, ist es sehr angenehm, dass ich zwar etwas, aber nicht alles vom Text verstehe. Es gibt auch keinen Liedtext online, wo ich mal nachschauen könnte. Ich reime mir einfach den Sinn zusammen. So ist das zwar nicht exegetisch korrekt, aber dafür gibt es immer wieder eine Textzeile die mir im Kopf bleibt.

Verrückt, oder?

Ein Freund bleibt ein Freund…

Nachtschicht auf dem Rettungswagen, gegen halb zwölf ruft uns der Melder zu einem Notfalleinsatz. Ein gestürzter Mann auf der Straße – die Passant*innen, die den Herrn umsorgend versuchen in der stabilen Seitenlage zu halten, berichten, er sei umgefallen wie ein Brett. – Kein Wunder, denn die zwölf großen Bier, von denen er berichtet, gingen nicht spurlos vorbei.

Es ist ein Klassiker: ein wohnungsloser Mann, nur einige Jahre älter als ich, nach einem Streit mit Verwandten hat er seinen Frust kräftig im Hopfensaft ertränkt. Während unserer Versorgung wiederholt er seine Fragen, und  schildert seine Eindrücke von dieser Welt und seinem Leben. Die Situation – in einem Rettungswagen liegend und nicht mehr wissend, was geschah – kränkt ihn,  ist ihm peinlich. Er weint. Ich hoffe, dass das Wechselbad der Gefühle nicht in Aggression umschlägt, wie es auch durchaus mal vorkommt. Klientelpolitik, bei der ich mich selbst erwische, da sie keinerlei Relevanz für die Versorgung und die Situation hat.

Wir reden ihm gut zu, wiederholen geduldig, fast mantraartig unsere Maßnahmen und unsere nächsten Schritte. „Ein Freund bleibt ein Freund“, sagt er immer wieder. Er glaubt, wir seien uns schon mal begegnet und fantasiert mich in abstruse Situationen seines Lebens.

In der Klinik hockt er in der Notaufnahme auf einer Trage und ruft mich zu sich, er bietet mir den Platz neben sich an, den ich etwas zurückhaltend doch einnehme. Dann stützt er sich mit dem Arm auf meiner Schulter ab und erklärt mir noch einmal „ein Freund bleibt ein Freund“ und bedankt sich per Handschlag für unsere Versorgung. Für die Klinik-Kolleg*innen ein etwas seltsames Bild: der rot-blau leuchtende Uniformträger nebst der Alkoholfahne, die wie zwei Freunde auf einer Mauer sitzen und über das Leben sinnieren. Einerseits mag ich diese Nähe nicht mit diesem fremden Menschen, andererseits sehe ich, dass es ihm gut tut – und mir nicht weh.

Für mich eine kurze Begegnung, eine Mission, die mir wieder einmal zeigt wie die in unserer Gesellschaft, in unseren Vorurteilen, in unserer Welt untergehen, die wenig bis nichts haben. Ihre Wünsche nach einem „normalen“ Leben, nach verlässlichen Freund*innen – wer kennt sie nicht? Ich wünsche, er findet ihn*sie: der*die Freund*in, der*die ein*e Freund*in bleibt.

Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.

Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

Beten statt Tun

„Wann sollen wir zum Renovieren kommen? Brauchst Du Hilfe bei den Vorbereitungen? Sollen wir was mitbringen?“ Das waren Fragen, mit der ich eine liebe Freundin unterstützen wollte, die gerade an einem coolen Projekt dran ist (sowas mit Kaffee, Keksen, Gott und Gemeinschaft).

Zurück kam: „Mitbeten ist gerade alles, was ich brauche.“ Ich gebe zu, da hab ich erstmal geschluckt. Und als dann noch jemand schrieb „Ja klar“, und ich erkennen musste, dass ich das war (macht man ja so als gute kirchliche Mitarbeiterin und Theologin), bin ich zusätzlich ganz ordentlich erschrocken. So als „Glauben in der Tat“-Mensch fallen mir die lebenspraktischen Dinge häufig leichter als fromme Worte zu gefalteten Händen. Helfen geht aber grundsätzlich immer und der Impuls hat da wohl gesiegt.

Das Ganze ist es für mich ein riesiger Denkanstoß… Wann hab ich eigentlich mit Gott das letzte Mal gesprochen (abgesehen von so kleinen Stoßgebeten à la „Bitte lass die Ampel grün werden / meinen geflickten Fahrradreifen halten / Das ist ja ein toller Sonnenuntergang – ach guck mal da, ein Vogel…“)?
Nun hab ich also versprochen, für jemanden und deren Herzensangelegenheit zu beten. Irgendwie ist man da ja schon verantwortlich, oder?

Also nicht dafür, dass es klappt, aber dafür, diejenige und ihr Projekt „vor Gott zu bringen“. Jetzt einfach nix machen, geht ja auch nicht – und renovieren ist grade nicht. Also beten. Herausforderung angenommen.

Abstraktion

Ich als Geisteswissenschaftler liebe – hier und da – die Abstraktion. Ich merke in Diskursen immer wieder, dass ich mich mit meinen Gesprächspartner*innen besser verständigen kann, wenn die dahinterliegenden Einstellungen thematisiert werden. Und dafür brauche ich einfach die Abstraktion. Abstraktion kommt vom lateinischen abstractus ‚abgezogen‘, Partizip Perfekt Passiv von abs-trahere ‚abziehen‘, ‚entfernen‘, ‚trennen‘ (Danke Wikipedia); um an die grundsätzliche Einstellung des Menschen zu kommen, gilt es also, alles Konkrete, Flüchtige und eben Temporäre abzuziehen.

Die eigene Einstellung ist fundamental für alle nachfolgenden Argumente. Wenn ich die grundsätzliche Einstellung des Menschen und damit seine grundsätzliche Sicht auf die Welt verstanden habe, fällt es mir leichter seine konkrete Argumentation einzuordnen. Damit dient sie der Erkenntnis.

Ganz schön abstrakt alles. Aber so ist das eben mit dem Dahinterblicken. Konkretes kommt dabei in erster Linie nicht rum, aber dafür lässt sich einiges Konkrete danach besser verstehen. Dabei geht es bei der Abstraktion immer darum, das Konkrete besser zu verstehen.

Wenn mir jedoch eine Person erzählen will, dass „wir“ doch stolz auf die Leistungen der deutschen Soldaten in den zwei Weltkrieg sein können, dann wird die Abstraktion zur Verschleierung des Konkreten – der massiven Verachtung gegenüber dem Leben – genutzt. Dann dient sie nicht mehr der Erkenntnis, sondern einzig dem eigenen Nutzen innerhalb des Diskurses. Aber auch das kann ja eine Erkenntnis über den Menschen sein.

Unterbrich mich

Wenn ich jetzt schon weiß, was nachher kommt und der nächste Schritt dem ersten folgt.

Unterbrich mich.

Wenn ich dir heute sagen kann, was morgen passiert, welches Wetter wird und wohin ich geh.

Unterbrich mich.

Unterbrich mich. Halte mich an. Zieh mich aus dem Kreis. Gib mir für einen kleinen Moment das Gefühl, nicht weiter zu müssen. Stehen bleiben zu können.

Unterbrich mich. In meinen Gedanken. Wenn der eine dem nächsten folgt und sie sich immer weiter aufbauschen.

Unterbrich mich.

Und danach lass mich wieder frei.

Zwischen

Zwischen ist so ein schönes Wort. Denn es beschreibt Übergänge, die mein Leben ausmachen. Das Studium gleitet in den Beruf über. Ein Zustand, den ich durchaus schätzen gelernt habe. Der aber an Tagen, die ich in den Räumen verbringe, die sieben Jahre lang mein Zuhause waren, Wellen der Nostalgie und des Selbstmitleides auslöst. Inzwischen verändert sich auch dieser Raum, wird umgebaut, und scheint sich damit dem gesamten Prozess, den man so als Uni-nach-7-Jahren-Beenderin durchmacht, anzupassen.

Eine Übergangsphase, ein Umbau, unfertig. Zwischen alt und neu, zwischen Vergangenheit und Zukunft (wenn man das so episch sagen will). Ich überlege, ob es nicht immer nur ein Dazwischen gibt, ob dieser Mythos vom „Ankommen“ nicht völliger Quatsch ist. Immer kommt etwas Neues auf uns zu, immer liegt etwas anderes hinter uns, der Horizont (schon wieder so ein episches Wort) zieht.

Es gibt Tage, da fällt das weniger auf, da erscheint mir das natürlich und selbstverständlich, immer auf was Neues zu schielen, mich auf Dinge vorzubereiten und die dann hinter mir zu lassen.

An anderen Tagen (heute ist so einer) ist das Dazwischen schwer zu ertragen. Wo bin ich denn zu Hause? Wo will ich eigentlich hin? Warum liegen so viele Sachen schon hinter mir? Warum bin ich nie zufrieden mit dem, was gerade ist?

Dazwischen. Im Alten Testament bedeutet Gottes Name „Ich bin da.“ Und dass „da“ überall und nirgendwo ist,  zeigt er immer wieder ziemlich eindrucksvoll im „Zwischen“. In den Zweigen des Dornbusches, der Feuer fängt, bei den Jüngern, die nachdem Jesus gestorben war, kopflos durch die Gegend liefen. Und gerade ja auch zwischen den Zeiten, irgendwo zwischen Damals – Jetzt – Ewigkeit.

Deshalb: Gott, auf ein Wort im Zwischen.

Mehr zwischen gibt’s unter http://netzgemeinde-dazwischen.de/