Vom Wert und vom Nutzen

Ich bin ja von Natur aus ein sehr perfektionistischer und ehrgeiziger Mensch und das in allen Lebenslagen. Das ist toll, denn in der Uni regnet es quasi gute Noten und auch im Ehrenamt, so versichert man es mir ab und an mal, könne man immer auf mich zählen. Alle Dinge, die anstehen, sind bei mir so geplant und strukturiert, dass ich allen Anforderungen gerecht werden kann. Und wenn dann mal wieder ein anstrengender Tag hinter mir liegt, an dem viele Termine eingehalten, viele gute Worte gesprochen und viel auf die Beine gestellt wurde, ja, dann kann ich mich am Abend beruhigt auf der Couch zurücklehnen und mir sagen: Was du heute wieder alles geschafft hast! Du bist wirklich ein wertvoller Mensch!

Heute läuft nur leider alles ganz anders. Ein langer freier Nachmittag liegt vor mir und auch die Aufgaben türmen sich auf meinem Schreibtisch. Nur mein Gehirn, das will heute nicht so recht, meine Motivationsakkus scheinen komplett leer zu sein.

Ich vergeude also den Nachmittag mit Kochen, Aufräumen, auf dem Sofa und trinke einen Kaffee und einen Tee nach dem anderen. Ich schaue in die Luft, denke nach, mache ein kurzes Nickerchen, aber bei all dem, was ich tue, nagt das schlechte Gewissen in mir.

Wie nutzlos du heute bist, sagt es mir.

Was für eine Zeitverschwendung deiner wertvollen Lebens- und auch Arbeitszeit.

Wie gut hättest du heute das ein oder andere lesen oder zusammenfassen können.

Und was machst du daraus? Nichts!

Ein schrillendes Geräusch reißt mich plötzlich aus meiner Gedankenspirale. Noch etwas verträumt ergreife ich den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meiner Mutter. Als ich mich nach dem Grund ihres Anrufs erkundige sagt sie: „Och, ich wollte einfach nur mal kurz deine Stimme hören.“

Sofort wird es mir warm ums Herz, denn was meine Mutter mir in diesem Moment eigentlich sagt ist: Du bist wertvoll und das einfach, weil du du bist.

Als wir aufgelegt haben, setze ich mich erneut auf die Couch, lasse mich in die Kissen sinken und denke mir voll Stolz: Heute musstest du einfach mal nur du sein.

Würd‘ ich anders machen?

Das Jahr neigt sich mit der Adventszeit langsam dem Ende zu. 2017 war für mich ein turbulentes und aufregendes Jahr. Vieles hat sich verändert. Vieles hat sich gefestigt und vieles steht noch offen.

Heute vor einem Jahr stand ich noch auf wackligen Beinen und hatte Angst zum Ende zu kommen. Die Mosel hat mir beigebracht, dass Schleifen zu schlagen auch mal gut tut. Ich habe Held*innen verloren und das Chaos regieren lassen.

Einiges ist einfach passiert. Vieles habe ich selbst so entschieden. Nie die riesen Entscheidungen, aber auch nie wirklich einfache. Schritt für Schritt bin ich da angekommen, wo ich jetzt bin.

Würd‘ ich es anders machen?

Sicher einiges, aber wer weiß, wer ich dann jetzt wäre.

Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

Die Mauern von heute

28 Jahre lang stand auf europäischem Boden eine sehr reale Grenze,  ein Unrecht.
Weithin sichtbar. Real in den Köpfen.
Dieses Unrecht zeriss ein Europa, das zusammenzuwachsen versuchte.
Es verdeutlichte gleichzeitig durch seine Sichtbarkeit und Realität: Bis hier hin und nicht weiter darf gegangen, gedacht, gelebt werden.
Und dann zerbrach das Unrecht mit einem Scheppern und Günther Schabowskis flapsigen Worten: „Das tritt nach meiner Kenntniss… – ist das sofort.

Heute blüht ein Naturschutzgebiet als grünes Band dort, wo Erich Honecker den modernsten Grenzzaun der Welt plante. Und das ehemals zerrissene Europa wankt zwar, aber besonders die sogenannten Jungen – wer auch immer da dazu gehört – leben darin wie selbstverständlich ihre europäischen Freiheitsrechte. Sie, und damit meine ich eben auch mich,  gehen, denken, leben wo und wie sie wollen.

Statt eines trennenden Unrechts scheint vereinende Freiheit Europa zu bestimmen.

Worüber aber keiner spricht:
Diese Freiheiten werden durch Grenzen „gesichert“.
In einer Welt, die zusammenzuwachsen versucht, sind so gut wie alle möglichen Wege nach Europa dicht.

Millionenbeträge werden gezahlt, damit die Jungen und die Armen dieser Welt nicht hier her kommen.
Menschen werden in Lagern gehalten.
Modernste Zäune und Drohnentechnologie wirken wie Erich Honeckers feuchter Traum.
Und werden gerade geplant.
Auch das ist Unrecht. Aber da es mich nicht betrifft, nehme ich es nur sehr schwer wahr.

Welche Worte werden es zum Fall bringen und wer wird sie sprechen?

Beten statt Tun

„Wann sollen wir zum Renovieren kommen? Brauchst Du Hilfe bei den Vorbereitungen? Sollen wir was mitbringen?“ Das waren Fragen, mit der ich eine liebe Freundin unterstützen wollte, die gerade an einem coolen Projekt dran ist (sowas mit Kaffee, Keksen, Gott und Gemeinschaft).

Zurück kam: „Mitbeten ist gerade alles, was ich brauche.“ Ich gebe zu, da hab ich erstmal geschluckt. Und als dann noch jemand schrieb „Ja klar“, und ich erkennen musste, dass ich das war (macht man ja so als gute kirchliche Mitarbeiterin und Theologin), bin ich zusätzlich ganz ordentlich erschrocken. So als „Glauben in der Tat“-Mensch fallen mir die lebenspraktischen Dinge häufig leichter als fromme Worte zu gefalteten Händen. Helfen geht aber grundsätzlich immer und der Impuls hat da wohl gesiegt.

Das Ganze ist es für mich ein riesiger Denkanstoß… Wann hab ich eigentlich mit Gott das letzte Mal gesprochen (abgesehen von so kleinen Stoßgebeten à la „Bitte lass die Ampel grün werden / meinen geflickten Fahrradreifen halten / Das ist ja ein toller Sonnenuntergang – ach guck mal da, ein Vogel…“)?
Nun hab ich also versprochen, für jemanden und deren Herzensangelegenheit zu beten. Irgendwie ist man da ja schon verantwortlich, oder?

Also nicht dafür, dass es klappt, aber dafür, diejenige und ihr Projekt „vor Gott zu bringen“. Jetzt einfach nix machen, geht ja auch nicht – und renovieren ist grade nicht. Also beten. Herausforderung angenommen.

Angst vor 18:00 Uhr

Da ich nun schon ein paar Jahre in Trier lebe, ist es – leider – alltäglich geworden von römischen Baudenkmälern umgeben zu sein. Wenig achtsam, manchmal ohne sie eines Blickes zu würdigen, passiere ich die Porta Nigra, die Kaiserthermen oder die Konstantinbasilika.

Aber es gibt immer wieder Tage, an denen ich bewusst stehen bleibe.

So auch heute. Seit einigen Minuten stehe ich vor der Konstantinbasilika.

Heute ist vieles anders als sonst.

Ich habe Angst. Genauer gesagt habe ich Angst vor 18:00 Uhr.

Die Konstantinbasilika erinnert mich daran, wie schnell sich die Politik ändern kann. Im dritten Jahrhundert wurden viele Christ*innen von den Römer*innen verfolgt, 313 hat Kaiser Konstantin der Große das sogenannte Mailänder Toleranzedikt unterzeichnet, nur einige Jahrzehnte später wurde das Christentum zur Staatsreligion.

So ist die Konstantinbasilika für mich nicht nur ein Meisterwerk antiker Baukunst. Sie ist auch eine steingewordene Lehrstunde über Politik.

Vielleicht ist mir die Basilika am heutigen Tag deshalb besonders nahe. Ich komme nicht damit klar, wie schnell sich Politik und Gesellschaft manchmal ändern. Vor sechs Jahren habe ich im Geschichtsleistungskurs ungläubig darüber gestaunt, wie rasant sich eine abartige Politik wie die NS-Ideologie in der Breite durchsetzen konnte. Heute muss ich mir um 18:00 Uhr von Bettina Schausten erklären lassen, dass eine Partei in den Bundestag einzieht, deren Spitzenkandidat von „entsorgen“ spricht, wenn er von einem Menschen redet, und die von „Stolz“ reden, wenn sie an die „Leistungen“ der deutschen Soldat*innen in Verdun und Stalingrad denken.

Heute wird mir um 18:00 Uhr ein blauer Balken mit einer Prozentzahl aufzeigen, dass es in Deutschland immer noch rechte Verführer*innen gibt, von denen sich zu viele Menschen verleiten lassen. Heute ab 18:00 Uhr muss ich vielen wunderbaren Menschen und Freunden in Kenia erklären, dass im höchsten Parlament meines Landes eine Partei sitzt, dich sich über „Neger“ und den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ auslässt. Ich könnte im Strahl kotzen! Ich könnte heulen!

Ich fühle mich machtlos. Auch wenn ich den Fernseher um 18 Uhr ausschalte, Bettina Schausten wird trotzdem reden und der blaue Balken wird viel zu hoch ansteigen.

So stehe ich jetzt hier. Ich hasse diese Machtlosigkeit! Ich kann mit diesem Gefühl nicht gut umgehen. Deswegen mache ich der Konstantinbasilika jetzt ein Versprechen. So wie ich mich an die vielen römischen Baudenkmäler in Trier gewöhnt habe und sie nur noch selten richtig wahrnehme, möchte mich nie daran gewöhnen, dass Extremist*innen im Parlament über mein Leben und meine Zukunft entscheiden.

Ich verspreche, Zeuge dafür zu sein, dass ich an Gott glaube, der jeden Menschen gleich geschaffen hat und der die Liebe ist.
Ich verspreche, dass ich für alle Parteien im Deutschen Bundestag beten werde.

Und jetzt gehe ich wählen.

Nein, ich lebe genau so, wie ich will!

Ich bin jetzt zusammen mit meinem Zukünftigem im letzten Monat unserer Hochzeitsvorbereitungen. Dazu gehört eben auch, noch einmal den Saal für die Deko zu begutachten und dem Personal der Location die letzten Wünsche mitzuteilen.

„Ein bisschen Efeu würde sich noch gut in den Fensternischen machen.“ „Nein, ein paar Sitzkissen für draußen zieht die Hochzeitsgesellschaft vielleicht viel zu sehr nach draußen.“
„Brauchen wir zusätzliche Kissen für die Rückenlehnen?“ – „Nein, beim Tischgespräch wendet man sich doch eher nach vorne, sodass der Sitzkomfort nicht wirklich beeinträchtigt wird.“

„Wird es die Schwingungen im Raum verändern, wenn wir eine Cocktailbar einrichten anstatt die Cocktails vom Service bringen zu lassen?“
„Nein, ein bisschen Bewegung kann bei den Gästen schließlich nicht schaden und hebt für gewöhnlich die Stimmung. Ich habe gehört, bei körperlicher Aktivität sollen Glückshormone ausgestoßen werden, die beim Gast dann wohl für das beste Wohlbefinden sorgen!“

Froh, Dinge, die wahrscheinlich für den hochzeitlichen Weltuntergang gesorgt hätten, abgewendet zu haben, wendeten wir uns als nächstes den Absprachen mit dem Service zu. „Haben wir eigentlich Schnapsgläser?“ – „Hm, die müssten unbedingt noch besorgt werden.“

Sie müssten aus Glas sein und natürlich zu den ausgesuchten Gläsern und Tellern passen, sonst riskieren wir schließlich einen Aufruhr unter den Gästen.

Plastikgläschen? Nein, die kommen nicht infrage, sind sie doch völlig unangebracht für ein Fest von solchem Rang!

Am Ende unserer Besprechungen erzählte mir unsere Servicekraft, dass sie letztes Wochenende auf einer Hochzeit bedient hat, auf der selbst Burger für die Gäste zubereitet wurden. Gegessen wurde auf schön eingedeckten Bierbänken in einem Park. Deko bot die Natur. Ein Teich und ein paar Bäume.

In dem Gedanken – zumindest fortan – ein unabhängiges und eigenständiges Leben zu führen, beschloss ich auf dem Weg nach draußen: „Doch Plastikschnapsglässchen! Auch wenn ich damit möglicherweise ein öffentliches Ärgernis errege.“

Zweifelsfrei

09:29, Hausflur.

„Du solltest an deinen Essgewohnheiten zweifeln“, scheint der Pizzakarton morgens auf dem Weg zur Tonne zu murmeln, bevor er mit einem lautem Knall in ihrem Rachen verschwindet.

Heute bin ich zweifelsfrei.

09:54, Bushaltestelle.

„Du solltest an deinem Zeitmanagement zweifeln“, dröhnt der Bus frech, bevor er mir vor der Nase wegfährt. Ich lächle mir die Sache schön und warte in der Sonne.

Heute bin ich zweifelsfrei.

14:37, Bibliothek.

„Du solltest an deiner Arbeitsmoral zweifeln“, blitzt es von der Chronik der letzten Stunden, bevor ich das Youtubefenster schließe und mich wieder an die Arbeit mache.

Heute bin ich zweifelsfrei.

20:03, Supermarkt.

„Du solltest an deinem Musikgeschmack zweifeln„, scheint es vom Display meinen Handys zu blinken, als die Wiedergabeliste von Maeckes zu Musicals springt.

Heute bin ich zweifelsfrei.

Unterbrich mich

Wenn ich jetzt schon weiß, was nachher kommt und der nächste Schritt dem ersten folgt.

Unterbrich mich.

Wenn ich dir heute sagen kann, was morgen passiert, welches Wetter wird und wohin ich geh.

Unterbrich mich.

Unterbrich mich. Halte mich an. Zieh mich aus dem Kreis. Gib mir für einen kleinen Moment das Gefühl, nicht weiter zu müssen. Stehen bleiben zu können.

Unterbrich mich. In meinen Gedanken. Wenn der eine dem nächsten folgt und sie sich immer weiter aufbauschen.

Unterbrich mich.

Und danach lass mich wieder frei.