Der Letzte seiner Art

04.12.2018 – 23:56 Uhr – Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Zu viele Gedanken treiben mich gerade um. Ich will schlafen. Der Wecker klingelt um 05:20 Uhr. Aber da sind diese Nachtgedanken.

Heute war ich auf der Beerdigung des emeritierten Trierer Weihbischofs Leo Schwarz. Ich bin noch traurig. Nicht weil ich ein besonderes persönliches Verhältnis zu ihm gehabt hätte, vielmehr ist es der Schmerz über den Verlust eines Typus von Kirche – den der Verstorbene personifiziert hat wie kein*e Zweite*r – der mich so traurig macht.

Leo Schwarz hatte sein Leben besonders den Armen dieser Welt verschrieben. Unermüdlich gab er auf der ganzen Welt – besonders in Bolivien – den Menschen eine Stimme, die sonst gerne im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen werden. Er verhandelte und vermittelte dabei mit den ganz Großen dieser Welt. Dabei sah er selbst das Große immer im Kleinen.

Leo Schwarz. Der Letzte seiner Art. Wer soll diese Lücke füllen? Wer soll so personifiziert wie er den Auftrag wach halten, dass die Kirche sich in erster Linie nicht um irgendeinen inneren strukturellen Scheiß zu kümmern hat, sondern dass das Evangelium gelebt werden muss? Und zwar so radikal, dass ein Bischof wie er viele Jahre als bolivianischer Landpfarrer an der Seite der Menschen lebt.

Der Letzte seiner Art…

Verdammt. Ich muss echt mal schlafen. Die kommenden Tage werden lang.

Ich werde wieder viele Stunden als Nikolaus verkleidet unterwegs sein. Der große Heilige Bischof von Myra, der das Teilen und Schenken so beeindruckend vorlebte, dass wir uns heute noch an ihn erinnern.

Ob die Menschen bei seiner Beerdigung im vierten Jahrhundert auch dachten: Der Letzte seiner Art ist gegangen…?

Ich weiß es nicht. Vorstellbar ist es.

Wenn sie es dachten, hatten sie Unrecht. Es kamen noch viele seiner Art, bekannte wie unbekannte Persönlichkeiten. Einer davon wurde heute beerdigt. Hoffentlich nicht der Letzte seiner Art.

Notiz an mich selbst: Lebe so, arbeite so und verkündige Gott so, dass niemand irgendwann sagen muss: „Es gibt sie einfach nicht mehr, die Letzten ihrer Art“

Schlussstrich ziehen.

Es war nicht so einfach, aber das letzte Jahr habe ich nochmal gelernt Schlussstriche zu ziehen. Manche freiwillig, manche unfreiwillig. Manche unter die Geschichte mit einem Menschen, weil der Tod für einen kurzen Moment über ihr Leben siegte. Manche unter eigene Anforderungen, weil sie mehr lähmten als motivierten.

Manche Schlussstriche unter Sätze, die mir nachgingen. Sätze, die mich lange begleiteten, ohne mir jemals geholfen zu haben. Die mir gerade dann in den Kopf schossen, wenn ich sie am wenigsten brauchte.

Ich habe Schlussstriche gezogen unter Menschen, die Kraft raubten, ohne Halt zu geben. Die immer etwas wollten und ihre eigene Unfähigkeit hinter blumigen Wortgewändern versteckten.

Schlussstriche unter Geschichten, die verletzt haben. Die immer noch verletzen. Wo der Schlussstrich angefangen hat und bis zum Ende des Jahres durchgezogen wird. Ein kleines ToDo bis Weihnachten.

Bist du gläubig?

Nach ein paar Getränken an der Theke lautet die Frage meiner neuen Bekanntschaft: „Bist du gläubig?“

Ich muss zugeben, dass mir diese Frage häufig gestellt wird und trotzdem muss ich kurz innehalten. Mein erster Impuls ist „Ja“ zu sagen und zu hoffen, dass wir wieder das Thema wechseln können. Mir ist unklar, worauf mein Gegenüber hinaus möchte und welche Antwort ihn zufrieden stellen könnte.

Ich entscheide mich dazu, ihm ausführlicher zu antworten, zeige auf, wie ich das Leben sehe und welche Werte ich vertrete. Wir diskutieren im Anschluss über Gott und die Welt. Er verabschiedet sich mit den Worten: „So einen wie dich habe ich noch nicht getroffen… Ich würde auch gerne glauben.“

Es ist eine dieser Begegnungen, über die ich noch am nächsten Morgen nachdenke. Mit Sicherheit habe ich ihn nicht von etwas überzeugt und wahrscheinlich ist er sich nicht darüber bewusst, was das Gespräch in mir ausgelöst hat.

Doch diese Frage in einer Bar hat mich auf die Adventszeit eingestimmt.

Herzlich Willkommen, Neuanfang?

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass die aktuellen Veränderungen mich ganz schön herausfordern: Studienabschluss, ein neuer Job, Umziehen, neue Umgebung, neue Menschen. Das waren schon eine ganze Menge Veränderungen auf einen Schlag.

Und dann habe ich in meiner Playlist dieses Lied von Clueso „Neuanfang“. Da singt er immer wieder „Herzlich Willkommen – Neuanfang!“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich so motiviert und überschwänglich auf etwas Neues, auf Veränderungen zugehe. Versteh mich bitte nicht falsch: Ich habe mich total darauf gefreut nicht mehr zu studieren, endlich den Abschluss in der Tasche zu haben und mein eigenes Geld zu verdienen. Aber trotzdem… Herzlich Willkommen, Neuanfang?

Meine Erfahrung ist, dass ich mir erst mal eine Menge Sorgen und Gedanken mache, wenn Veränderungen ins Haus stehen: „Wie wird das nur werden?“, „Wie soll ich das alles schaffen?“… Und das hat eine hohe Berechtigung. Die Sorgen haben einen Grund und müssen ernstgenommen werden. Und dennoch will ich der Sorge allein nicht die Macht überlassen.

Clueso hat’s für mich erkannt. Er spricht vom Gegenwind. Ich fühle mich so oft gehemmt vor lauter Gegenwind und denke: „Das ist unmöglich! Aber Clueso sagt: „Doch ich lauf los, all die schönen Erinnerungen ich halt sie hoch!“
Gute Idee! Einfach draufloslaufen! Die guten alten Zeiten im Gepäck, um daraus Kraft zu schöpfen und wieder Neues anzugehen. Und aus dem Neugeformten können wiederum schöne Erinnerungen entstehen.

Und dann sagt Clueso auch ganz klar: „Das Vorne (also das Neue) es fühlt sich wacklig an!“ Ist ja logisch, weil wir es noch nicht kennen. Wir wissen noch nicht, wo es uns hinführt. Und trotzdem gelingt es mir (wenn ich mir all meine Sorgen und Gedanken gemacht habe) wie Clueso, ein Herz zu fassen und zu sagen: „Herzlich willkommen – Neuanfang!“

Warum ich das kann? Weil ich nicht allein unterwegs bin. Weil ich Familie und Freund*innen habe, die mit mir gehen und weil da noch einer ist, der mit mir geht und der sagt: „Macht euch keine Sorgen! Denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!“ (Neh 8,10)

Daran kann ich mich festhalten. Und es fällt mir nicht jeden Tag leicht, mich daran zu erinnern: wenn´s gerade mal nicht so gut läuft oder wenn richtig schlechte Nachrichten kamen, oder wenn mal wieder ein Tag ist an dem ich mir viele Sorgen und Gedanken mache. Aber letzten Endes bleibt es das, was mich ausmacht und woran ich mich festhalten kann; woraus ich immer wieder Kraft für Veränderung und Neuanfang schöpfen kann. Und dann habe ich auch den Mut laut auszusprechen: „Herzlich Willkommen, Neuanfang!“

Leben auf Pause

Es sind die kleinen Sätze einer anderen Person, die mir oft helfen etwas, was selbstverständlich scheint, nochmal besser zu begreifen. In diesem Jahr hatte ich einen Workshop mit Krankenpflegeschüler*innen. Das Thema „Nächstenliebe“. Ein Klassiker jeder Katechese und dort eben auch oft folgenlos.

Von 146 Bildern – all die Bilder, die noch in meinem Downloadordner für verschiedene Aufträge waren – sollten sie sich ein Bild aussuchen, das für sie am besten „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ erklärt.

Kein weiterer Input. Nur die Bilder als Hilfe und die Erzählungen der anderen Schüler*innen als Impuls. Ein Satz ist mir in dieser Arbeit besonders in Erinnerung geblieben. Und wenn ich ihn jemandem erzähle, bekomme ich immer noch Gänsehaut.

„Nächstenliebe bedeutet für mich“, sagte sie, „das eigene Leben für jemand anderen auf Pause zu stellen.“

Bäm. In meinem ganzen Studium ist mir noch keine so präzise Definition von Nächstenliebe begegnet. Weil sie das Bedingungslose aufzeigt, aber die Grenzen, meine Kapazitäten, nicht vernachlässigt.

Auf Pause stellen heißt eben auch, irgendwann wieder Play zu drücken.

Ertrinkende Menschen schweigen

Letztens habe ich im Radio einen Bericht über die Gefahr von Baden in freien Gewässern gehört. Eindrücklich beschrieb darin ein Rettungsschwimmer, dass viele Menschen eben auch deswegen ertrinken, weil die Umstehenden nicht wissen, wie ertrinken aussieht.

Ertrinkende rufen nicht – wie im Film – um Hilfe oder winken wild mit den Armen. Ertrinkende schweigen und gehen unter. Denn Ertrinken ist eine Erschöpfung. Ein nicht mehr Können. Der Kopf ist unter Wasser. Und wenn die Ertrinkenden es schaffen, das Gesicht über das Wasser zu bekommen, dann müssen sie einatmen, um wichtige Sekunden bis zur ersehnten Rettung zu überbrücken.

Ertrinkende hören nicht mehr auf ihren Namen. Sie können sich nicht mehr bemerkbar machen.

Sie ertrinken ohne ein letztes Wort.

Der Mensch hat keine Stimme mehr, kann niemandem seine Geschichten erzählen, kein Wort geht währenddessen über seine Lippen. Der ertrinkende Mensch schweigt solange, bis jemand die Stimme für ihn findet.

Maximal alt.

Letztens habe ich meine Reise für ein Frühstück mit einem alten Bekannten in Köln unterbrochen. Wir unterhielten uns auf der Domtreppe über dies, das und jenes, als er sagte: „Jeder ist eben immer maximal alt!“ Maximal alt ist eine von diesen Weisheiten, die total banal klingen, die aber – wenn ich darüber nachdenke – Welten aufschließen. Maximal alt ist also immer so alt, wie die Person davor noch nie war.

Damit ist natürlich verbunden, dass ich als maximal alte Person auch nie ganz das nachvollziehen kann, was mir Ältere erzählen. Ich weiß, wie es war sechzehn, achtzehn oder einundzwanzig gewesen zu sein. Ich weiß, welche Probleme mich und meine Freund*innen bedrückt haben. Ich weiß auch, wie es mich genervt hat Sätze wie „Ja, das kannst du noch nicht wissen, dafür bist du noch zu jung.“ oder „Das lernst du noch, wenn du mal älter bist.“ gehört zu haben.

Hätte ich die Weisheit von meinem Freund damals schon gewusst, dann hätte ich gesagt: „Zu jung? Ich bin maximal alt! Ich war noch nie älter als im Moment.“ Doch woher hätte ich es wissen sollen? Ich war eben auch nur in der damaligen Zeit maximal alt. Jetzt bin ich es wieder. Und morgen werde ich es auch sein.

Jeden Tag bin ich genauso alt, wie ich sein kann, und damit genauso bereit die Welt zu verändern.

Gegen die Dementoren unserer Zeit

Ich muss etwa neun Jahre alt gewesen sein, als ich mit „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ mein erstes „dickes Buch“ gelesen habe und stolz wie Oskar war, ein genauso dickes Buch wie meine Mama gelesen zu haben.

Bis heute ist der dritte Teil der Harry Potter Reihe mein liebster, steckt er doch voller faszinierender Ideen. Eine dieser Ideen ist das Zauberergefängnis Askaban und der dortigen Wächter, der „Dementoren“. Die Dementoren entziehen ihrer Umwelt alle glücklichen Gefühle, Nähe, Zwischenmenschlichkeit und Liebe. Gezeichnet hat die Autorin Joanne K. Rowling das Auftreten der Dementoren immer verbunden mit Kälte. Dort, wo Dementoren auftauchen, wird es dunkel und kalt. So wird Askaban zum kältesten und abscheulichsten Ort der Zaubererwelt.

In den letzten Tagen habe ich mein persönliches Askaban entdeckt. Ein abscheulicher, kalter Ort, ohne Liebe. Er heißt Facebook.

Ich habe mein Leben lang in das DEUTSCHE Steuersystem eingezahlt. Und nicht in Europäisches oder weltliches. Und diese Sozialleistungen sollen den in Not geratenen deutschen dienen und nicht den Kanaken!“

Mit Sehnsucht erwarte ich den Tag an dem Merkel im Grab vergammelt“

„Schneidet dem Dreckstürken erst die Glocken weg– und dann nach Santa Fu, wo die richtigen Brocken inhaftiert sind. Die brauchen hin und wieder Frischfleisch !!“

Kriminelle Schlepper sitzen nicht nur im Ausland – wie man uns immer vorgaukelt. Kriminielle Schlepper sind die, die das Pack hier anschleppen anstatt sie dahin bringen wo sie herkommen und von “ Schutz der Menschenrechte“ reden“

„Den armen armen Flüchtlingen muss geholfen werden! Ich spende eine Heimreise zurück in ihr Taka-Tuka-Land! Wer macht mit?“

All das sind Kommentare zu verschiedenen Artikeln zur aktuellen politischen Debatte.

Es sind Kommentare nicht nur von „irgendwem“, es sind zum Teil Kommentare von Menschen, die ich persönlich kenne.

Mir geht es, wie es den Zauberer*innen bei Harry Potter nach dem Besuch eines Dementors geht. Mir ist schlecht, mir ist kalt, ich habe Tränen in den Augen.

Was mir in meiner Welt bleibt, ist mein Glaube. Mein Glaube, der in jedem Menschen Gottes Ebenbild sieht, der mich frei von der egoistischen Illusion hält, dass mir irgendein Fleck auf dieser Erde gehören würde und nicht geschenkt wäre, mein Glaube, der jenseits von politischen Debatten und Meinungen Richtschnur und Verpflichtung gibt. Und es ist meine Aufgabe, dass aus meinem Glauben ein lautes „Expecto Patronum“ gegen alle Dementoren unserer Zeit wird.

Das Gleichnis der Zeitungsrolle

Wenn man zehn Monate verheiratet ist, dann häufen sich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis die vorsichtigen Fragen, wie es denn mit dem Thema Schwangerschaft aussieht. Nun gibt es tatsächlich neues Leben bei uns Zuhause zu verkünden, wenn auch nicht unbedingt so, wie vielleicht gerade erwartet wird.

In unserer Zeitungsrolle hat sich ein Rotschwanz ein Nest gebaut, fünf Junge sind geschlüpft und sorgen tagtäglich beim Ein- und Ausgehen für eine laute Begrüßung.

Hemmungslos schreien sie alle vorbeigehenden Hausbewohner*innen an, ohne Rücksicht auf morgendliche Müdigkeit, Telefonate oder Gespräche.

Auch so mancher Besuch hat sich schon erschreckt. Nicht nur der Lautstärke wegen, auch fliegt der Rotschwanz gerne mal haarscharf an Besucher*innen vorbei, die an der Haustür warten, gezielt in die Zeitungsrolle.

Mittlerweile ist unsere Zeitungsrolle eine kleine Attraktion geworden. Kinder aus der ganzen Nachbarschaft schauen regelmäßig in die Rolle und begutachten, wie groß die Vögel denn heute schon geworden sind. Ein Kind stellte dabei gestern mit großer Irritation fest: „Die machen ja gar nichts! Die sitzen einfach nur da, schreien ‚rum und bekommen ständig Essen gebracht!“

Eine ältere Frau, vielleicht die Oma, fragte: „Ja, und?“

Darauf wieder das Kind: „Die tun so als wären sie Könige! Aber es sind doch nur Baby-Vögel!“

Darauf erklärte die Oma: „Ach weißt du, die Vögel sind klein und schwach. Sie können noch nichts anderes als schreien und essen. Bald lernen sie fliegen, und bis dahin werden sie gefüttert und versorgt. Ihre Mama liebt sie und tut alles für sie. Für die Vogel-Mama sind die Kleinen richtige Könige, einfach nur weil es sie gibt“

„Einfach nur, weil es sie gibt?“

„Einfach nur, weil es sie gibt!“