Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!

Nie erwachsen

Ich muss es wohl zugeben: Genau wie Tabaluga, Peter Pan und Bushido habe ich so meine Problemchen mit dem Erwachsenwerden und -sein. Vor allem, weil ich gerne Unsinnigem nachgehe. Etwas, das keinen Platz hat, wenn ich 6 Uhr morgens zur Arbeit muss, den ganzen Tag im Büro Wichtiges erledige und mich dann, wenn ich wieder nach Hause komme, erstmal über die Anstrengungen der Arbeit aufrege, bis ich fernsehguckend auf dem Wohnzimmersofa einschlafe.

Mein ganz persönlicher Albtraum ist eine Routine aus aufstehen, arbeiten, aufregen, einschlafen. Ein Korsett, in dem kein Platz mehr für lustige, aber rein rational unnötige Projekte ist. Oder einfach mal eine Runde am Computer zocken. Wunderbare Zeitverschwendung.

Und nun musste ich im Gespräch mit einem guten Freund feststellen: Huch, so schnell ist man erwachsen und so schlimm haben wir uns dann doch nicht entwickelt. Ja, es gibt andere Prioritäten. Ja, die Zeit wird nicht mehr so zwanglos verschwendet wie früher. Aber, und das ist einfach gut festzustellen, es ist immer noch genug Zeit für Quatsch da.

Bis jetzt habe ich es geschafft dem Korsett zu entgehen, obwohl ich gestern Die Zeit lesend auf der neuen Gartenlounge auf der Terrasse meines Hauses gesessen habe, während meine Tochter im Garten spielte.

Zwangsheirat mit dem Prüfungsstoff

Die Freude über das neue Jahr hält bei mir nie sehr lange an, denn wie jeden Januar steht sie vor der Tür: Die allbekannte und immer herzlich begrüßte Prüfungsphase.

In dieser Zeit führe ich über mehrere Wochen mit meinen Prüfungsstoff eine Beziehung. Ich stehe morgens mit den Prüfungsinhalten auf, sie begleiten mich bis zum Bad, warten dann aber anstandshalber vor der Tür. Von dort aus rufen sie mir zu mich zu beeilen und auch das Frühstück sollte ich nicht länger als nötig hinziehen.

Nette Gespräch mit meiner Mitbewohnerin? Bei Freund*innen melden? Das kommt nicht in Frage!

Schließlich ist es nur die Beziehung zu den Prüfungsinhalten, die ich wirklich brauche. Über die Wochen hinweg werden sie mir immer vertrauter. Komischerweise fange ich an sie zu vermissen, wenn mich etwas anderes in Anspruch nimmt. Wenn ich mich dann endlich wieder nur ihnen zuwenden kann, ist es, als ob mein Herz, sich von einer langen Reise erholend, wieder zur Ruhe kommt.

Schlafen gehen wir natürlich auch zusammen. Ich liege rechts und meine Inhalte, naja, die liegen auch rechts und belagern sogar meine linke und meine rechte Gehirnhälfte. Da wird im Traum schon einmal überlegt, wie der Konjunktiv II des Verbs „sein“ gebildet wird (Nicht dass man es am Tag nicht wüsste!) oder was Henry de Lubac für einen Rhythmus für das christliche Leben verordnet.

Aber Moment mal! Für Lubac ist es der Dreischritt des Wurzelfassens, des Loslösens und Wandelnlassens der den Takt des Tages bestimmen sollte. Am Beginn eines Tages sollte das stehen was mir, unabhängig von der Prüfungszeit, tief im Inneren wichtig ist. Es sollte mein Mittelpunkt sein und so auch meinen Tag mitbestimmen! Denn der Prüfungsstoff  verlässt mich nach der Prüfungsphase wieder, aber das, was tief in mir ist, das begleitet mich weiter.

Von Zeit zu Zeit Chaos

Es könnte so einfach sein mit diesen Deadlines, diesen Abgabeterminen, diesen unerwartet auftauchenden Fristen, die ich dann doch immer wieder mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss. Wie bei diesem Text hier: In paar Minuten soll er online gehen. Und ich? Ich hatte bis gestern noch nicht einmal eine Idee, worüber ich schreibe. Es könnte so einfach sein, denn Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“

Also rein theoretisch hätte ich immer genügend Zeit für meine Sachen. Theoretisch hätte ich aber auch das Latinum besser als mit ausreichend bestehen können. Es ist dann doch immer wieder die Praxis, die mir aufzeigt, dass scheinbar alles unter dem Himmel seine Zeit hat, aber die Anzahl der Stunden und wie ich sie nutze dann doch in meiner Verantwortung bleibt.

Denn auch wenn alles eine Stunde hat, so lasse ich mich oft dazu verleiten, die Stunden der Sachen parallel zu legen. So kommt es von Zeit zu Zeit zum Chaos; aber auch das hat seine Zeit.

Warten auf den Frühling

Vergangene Woche bin ich durch mein tief verschneites und winterliches Heimatdorf spaziert. Ein solcher Spaziergang ist für mich immer mit vielen Erinnerungen verbunden. Sowohl an direkt erlebte Ereignissen als auch allgemeinerer Natur an eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Ganz schön merkwürdig mit 24 Jahren eine solche Aussage zu treffen.

Doch es gibt viele Orte in meinem Dorf, die mir dies deutlich bewusst machen: Die Bank unterhalb des Friedhofs, auf der immer ein älterer Herr saß, ist meistens leer, vor dem Haus an dem ich gerade vorbeispaziere steht kein Stuhl, obwohl früher immer dort eine Frau saß und sich mit den Vorbeikommenden über das Wetter unterhielt, und auch der Dorfladen, der von einer älteren Dame geleitet wurde, die immer, schon bevor ich den Laden richtig betreten hatte, mein Lieblingseis in der Hand hielt, ist geschlossen. All diese Orte und ihre Personen waren für mich feste Institutionen, die das Leben hier ausmachten. Nun sind sie nicht mehr da.

Das macht mich sehr traurig. Nicht nur, weil ich diese Personen vermisse, auch weil ich immer wieder spüre, wie sehr diese Personen dem Leben und dem Geist hier fehlen. Manchmal bekomme ich Angst, dass die doch recht wenigen jungen Menschen im Dorf diese Lücken nicht füllen können. Es scheinen mir immer weniger Schultern zu sein, auf denen das Dorfleben lastet.

Manchmal glaube ich, dass aus dem goldenen Herbst in meinem Dorf ein bitterkalter Winter geworden ist.

Doch bei diesem winterlichen Spaziergang fielen mir Plakate auf: Zum Einen wird zum ersten Mal ein Disco-Fox-Kurs angeboten, zum Anderen ist mein Dorf jetzt an ein Netz eines sogenannten Bürger*innenbusses angeschlossen, mit dem Senior*innen einfach und kostengünstig zum Supermarkt oder zu Ärzt*innen fahren können. Beim Lesen dieser Plakate wurde ich davon abgelenkt, dass zwei Kinder, die gerade einen Schneeiglu gebaut haben, mit ihrer Mutter diskutierten, ob sie jetzt wirklich nach Hause kommen müssen. Nach einigem Protest gingen die Kinder an mir vorbei auf dem Weg nach Hause. Genau als sie an mir vorbeikamen sagte eins zum anderen: „Guck nicht so traurig! Morgen kommen wir bestimmt wieder!“

Da stand ich tief im Schnee mit der dicken Jacke in meiner Winterstimmung und es kam mir ein älteres Lied der Sportfreunde Stiller in den Sinn, mit dem ich mich dann aber doch selbst ermahnen musste:

„Und ich warte mal wieder auf den Frühling!
Man kann nicht nur traurige Lieder singen,
doch bald werden sie wieder anders klingen,
wenn die ersten Sonnentage Wärme bringen!“

Sportfreunde Stiller - Frühling

Absolute Wahnsinnsshow

In den letzten Tagen habe ich immer wieder Fettes Brot mit „An Tagen wie diesen“ auf meinen Ohren. Zum einen, weil es ein ziemlich geniales Lied ist, und zum anderen, weil es meine aktuelle Ratlosigkeit im Hinblick auf die Welt gut in Worte fasst.

Das Lied beschreibt den Alltag von drei Personen, die davon berichten wie Schreckensmeldungen (Erst wird die Nachbarskatze überfahren, anschließend wird die globale Hungersnot thematisiert und in der dritten Strophe geht es um einen Anschlag mit sechs Toten.) immer wieder ihren Alltag streifen. Statt jedoch von den Meldungen berührt zu werden, den Alltag zu unterbrechen und eventuell etwas an ihren Gewohnheiten zu ändern, machen sie einfach im Gewohnten weiter.

Es ist eine Lähmung über die Faszination dieser „absoluten Wahnsinnsshow im Fernsehn und im Radio“, die eben nicht den Alltag unterbricht und die Protagonisten in totaler Überforderung  zurücklässt („Die Fragen bohr’n so gnadenlos, an Tagen wie diesen.“). Es ist ein Hin-und- her-gerissen-Sein zwischen Erschrecken, Alltagsbewältigung und lähmender Überforderung.

Und genau so fühle ich mich in den letzten Tagen, wenn ein Dekret nach dem nächsten, eine hohle Phrase nach der anderen sich gegen eine Welt stellen, die ich, auch aus meiner christlichen Überzeugung heraus, für richtig halte. Doch ich habe keine Lust mich davon lähmen zu lassen.

Es ist mir nicht egal, wenn eine Person Leute systematisch diskriminiert, wenn offensichtlich falsche Informationen verbreitet werden und das eigene Egoglück die Rechtfertigung für alles wird. Aber bei allem, was da passiert, ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich einfach nur ungläubig dastehe und mir denke: „Was ist das denn bitte für eine absolute Wahnsinnsshow?“

Sonntags um 06:20 Uhr

Zugegeben, ich bin ja schon ein kleiner Liturgienarr. Wenn die Orgel feierlich ertönt, Weihrauch geschwungen und dann vielleicht auch noch ein feierliches Lied gesungen wird, geht mir das schon sehr nah und erfüllt mich.

So trage ich auch schon seit einiger Zeit die Vorstellung mit mir herum, einmal am Hochfest Epiphanie im Kölner Dom zu sein. Das Hochfest der heiligen drei Könige an den Gebeinen der heiligen drei Könige im Dom zu feiern ist sicherlich etwas Besonderes. Wenn dann auch noch „Adeste Fideles“ – „Nun freut euch ihr Christen“ – gesungen werden würde, ja, dann wäre das sicherlich für mich ein tief anrührender und erfüllender Moment, der unter die Haut geht.

„Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubellieder
und kommet, o kommet nach Bethlehem.
Christus, der Heiland, stieg zu uns hernieder.
Kommt, lasset uns anbeten; Kommt, lasset uns anbeten;
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.“

Das Epiphaniefest habe ich dieses Jahr allerdings ganz anders gefeiert. Ich befinde mich zurzeit in Kenia und habe hier an einer Messe mit einer Gemeinde tief im Landesinneren teilgenommen.

Jeden Sonntag wird dort der Gottesdienst direkt zum Sonnenaufgang um 06:20 Uhr gefeiert. Warum? Vor sechs Jahren haben die Gemeindemitglieder begonnen eine Kirche zu bauen. Seit fünf Jahren liegt diese Baustelle brach. Es ist schlicht kein Geld da, um die Kirche fertig – oder überhaupt weiterzubauen. Dem Kirchbau fehlt es an allem und eben auch an einem Dach. Sobald die Sonne aufgeht wird es sehr heiß und ohne den Schatten, den ein Dach spenden könnte, ist die Hitze kaum zu ertragen.

Keine Orgel, kein Weihrauch, kein Strom, ja nicht mal ein Dach ist vorhanden;
das trifft nicht gerade die Vorstellung, die ich bisher mit dem Epiphaniefest verbunden habe.

Im Nachhinein muss ich sagen, ich hätte ich mir die Feier dieses Festes kaum schöner vorstellen können. Vielleicht lässt sich diese Liturgie mit dem Adjektiv „ehrlich“ am besten beschreiben. Es fanden sich so viele Gläubige ein: Menschen, die ein sehr einfaches Leben führen, Junge wie Alte, Arme und Kranke, die sich trotz dieser widrigen Umstände jeden Sonntag auf einen teilweise langen Fußweg durch die Dunkelheit machen um am Gottesdienst in ihrer „Kirche“ teilnehmen zu können.

Die Menschen hier sprechen weder Kisuaheli noch Englisch, sondern einen Stammesdialekt, der Kiluyha heißt. So habe ich wirklich kein einziges Wort in der Messe verstanden.

Aber als sich zur Kommunion ein alter Mann mit einem Bein und ziemlich zerrissener Kleidung, gestützt auf einen Stock nach vorne kämpfte, kam mir nochmal „Adeste Fideles“ in den Sinn.

„Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubellieder
und kommet, o kommet nach Bethlehem.
Christus, der Heiland, stieg zu uns hernieder.
Kommt, lasset uns anbeten; Kommt, lasset uns anbeten;
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.“

Irgendwie waren wir genau in dieser Messe tatsächlich angekommen. Zusammen waren wir im Stall von Bethlehem.

Dann kamen mir die Tränen.

Irgendwann 2017

„2017 wird mein Sterbejahr sein.“

Ich schlucke. Das sitzt. Eine Reaktion auf diesen Satz kostet Zeit.

Also erzählt sie, dass sie einfach nicht mehr könne.
Für ihre 94 sei sie zwar noch einigermaßen fit, doch eben nicht fit genug.
Das sei doch kein Leben mehr.
Und außerdem werde es stetig schlechter. Und anstrengender.

Sie hat es schwer. Womit genau?
Vielleicht mit dem Mensch-Sein so wie es für sie mittlerweile ist.
Vielleicht mit dem Gefühl, nicht mehr wirklich Mensch zu sein.
Oder mit der Angst, durch ihre Pflegebedürftigkeit andere Menschen am Mensch-Sein zu hindern.
Wahrscheinlich spielen all diese Aspekte zusammen und machen ihr das Leben schwer.

Sie sucht nach Erleichterung.
Die hat dann Gott für sie parat, hofft sie.

Wie das wird? Und wie oder was sie dann wird?
Es wird besser, glaubt sie.

Irgendwann 2017.

Haltewunsch

Da ist er also, der Advent, in vollem Gange, fast fertig. Ja, ich weiß – Lebkuchen und Spekulatius warten schon seit Monaten vertrocknend darauf, endlich gekauft zu werden, die Weihnachtsmärkte werden seit zehn Wochen (mindestens!) aufgebaut und überhaupt – man hätte schon merken können, dass er kommt, der Advent.

Hab ich aber nicht. Der November und auch der Dezember waren zu voll dieses Jahr – zu voll mit Veranstaltungen, Terminen und Aufgaben. Und dazu war der November auch kein richtiger, mit seinen Schreckensmeldungen und den dazu so gar nicht passenden Sonnentagen. Eigentlich die stringente Fortführung dieses Jahres. Ich finde, der Dezember mit seinem Advent hätte noch ein paar Tage warten können. Der Welt noch ein bisschen Zeit geben zum Sich-Beruhigen, statt täglich neue Kriegsverbrechen, Anschläge und Menschenhass zu verkünden. Da passt Weihnachten gerade so wenig wie Eis am Stiel.

Und irgendwie passt es halt ja doch wieder. Hilflose Kinder, die versuchen, die Welt wachzurütteln, Junge und Alte, die keine Heimat finden, Unglauben, Wut und Ratlosigkeit angesichts dessen, zu was Menschen fähig sind. Dahinein wird Gott Mensch, vor 2000 Jahren wie heute, und gibt damit das Versprechen, da zu sein.

Mein Kopf kann das alle wunderbar zusammenbringen. Aber entgegen allem Denken wünsche ich mir einfach nur, dass wenigstens an Weihnachten die Welt kurz still steht. Dass Gott nicht nur da ist, sondern einfach mal Frieden macht. Auszeit. Und sich alle, überall, in diesen Frieden verlieben. Utopisch. Ich weiß. Trotzdem.

Wenn die Hoffnung auf diesen Frieden sich nicht zur riesigen Sehnsucht auswächst, was bleibt dann?