Ich bin nicht würdig?!

Das schwierige an so einem Adventskalender zum Thema „WürdIch“ ist, auch in der letzten Woche noch Einfälle zu haben, die zu diesem Thema bisher noch nicht geschrieben wurde.

Das letzte Wochenende habe ich mich da doch sehr schwergetan, hin und her überlegt, welchen Aspekt von Würde ich noch beleuchten könnte.

Es wurde Freitag, es wurde Samstag, es wurde Sonntag… Ich hatte einfach keine gute Idee.

Meine letzte Hoffnung habe ich in den Besuch des Gottesdienstes am Sonntag gesetzt. Ich habe mir fest vorgenommen mit offenen Augen und Ohren den Gottesdienst zu besuchen um so vielleicht bestärkende und schöne Aspekte zum Thema „Würde“ und „Ich“ zu hören.

Den ersten Aspekt habe ich in der Lesung gehört.

„Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.“

Das ist doch schon ein Anfang, so kann’s weitergehen!

Nach der Lesung wird der Zwischengesang gesungen, das Magnificat, der Lobgesang Mariens aus dem Lukasevangelium:

„…Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut…“

Niedrige Magd?! Auf den ersten Blick vielleicht nicht so passend zum Thema „Würde“ und „Ich“. Aber mal sehen, was das Evangelium bereithält:

„…ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren…“

Okay, es geht zwar um Jesus, aber selbst für so eine Aufgabe nicht wert genug zu sein?

Puh.

Sensibilisiert für dieses Thema ging es weiter.

„…Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach…“

Also langsam wird es ganz schön dicke!

Am Ende des Gottesdienstes bin ich noch einen Moment am Pfarrbriefstand am Ausgang der Kirche stehen geblieben. Dort war ein kleines Kärtchen, dass wohl zur Heiligsprechung von Papst Johannes XXIII. herausgegeben wurde. Als ich das Kärtchen aufgeschlagen habe, las ich dort, als wäre es eine Zusammenfassung des gesamten Gottesdienstes:

„…Nie ist der Mensch größer, als wenn er kniet…“

Da hatte ich also eine geballte Ladung Inspiration für einen Adventskalendereintrag, wusste nur überhaupt nichts damit anzufangen. In diesem Gottesdienst kam der Gedanke eines niedrigen – ja vielleicht sogar erniedrigten -, demütigen Menschen so direkt und hart auf mich zu, dass alles, was ich wohl theologisch Schlaues darüber sagen könnte, vergessen habe. Mir schwirrte nur die Frage im Kopf: „Wie passt das denn jetzt mit dem Thema des Adventskalenders zusammen? Was kann ich denn da sagen?“

Auf der Heimfahrt hatte ich das Radio an. Ganz zugehört hab ich nicht, aber irgendwo verschwommen im Hintergrund kamen Worte wie: Arabischer Frühling, Jerusalem, Donald Trump, Attentat in Pakistan, Brexit, Raketentest, Antisemitismus…

Da ist es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen gefallen.

Ja, es stimmt!

„…Nie ist der Mensch größer als wenn er kniet…“

Zeit, die gekommene.

Endspurt – Weihnachtswoche, die Vorfreude steigt auf Weihnachten.
Doch was wäre, würde ich morgen sterben.

Wäre dann alles gesagt, alles getan?
Wären da noch „offene Rechnungen“, ausstehende Entschuldigungen?

In der vorweihnachtlichen Romantik, die sich zwischen den Jahresabschlussstress ergießt, bleibt kaum Platz für dieses Thema.
Doch es ist da, ganz nah. Und das Leben stellt mir diese Fragen, als ich die weiße Decke über die verstorbene Patientin ausbreite.

Was wäre, würde Morgen das Ende sein, und nicht Weihnachten die Ankunft, der Beginn.

Von der Sehnsucht loszugehen

So wie Raphael mal geschrieben hat, bin ich auch einer, der von Disney-Filmen entscheidend geprägt wurde. Und mein absoluter Disney-Lieblingsfilm ist eindeutig „Herkules“. Und mein absolutes Disney-Lieblingslied (Die sind doch sowieso das Wichtigste in den Filmen, oder?) ist „Go the distance“.

Da geht es um meine Sehnsucht.
Es geht um meine eigenen Potentiale.
Es geht darum, herauszufinden, was ich kann und wer ich bin und wie das zusammenhängt.
Es geht darum, anzukommen.
Und es geht darum, loszugehen.

Wohin gehst du?

Go The Distance - Hercules - Shawn Hook & KHS

Ich kann es nicht

Die Adventszeit gilt als Zeit, in der wir auf Weihnachten warten. Wir warten. Und wir bereiten uns auf das große Fest vor, indem wir Geschenke besorgen, Plätzchen backen, die Wohnung schmücken. Und der*die ein*e oder andere bereitet sich, wenn es die Zeit zulässt, auch innerlich vor – auf den Gedanken, dass Gott in diese Welt gekommen ist.

Wie würde (oder werde) ich mich vorbereiten? Kann ich mich eigentlich vorbereiten? Was muss ich denn eigentlich tun, um Gott angemessen zu empfangen? Was wir an Weihnachten feiern, ist doch eigentlich „unfeierbar“, weil es unsere Vorstellungskraft auf allen Ebenen übersteigt. Ich kann Gott doch gar nicht empfangen, weil ich kleiner Mensch damit völlig überfordert bin. Und all die Floskeln, die man in der Adventszeit allerorten hört – letztlich bleiben sie doch nur Floskeln. „Mein Herz öffnen“, „Liebe verbreiten“. Ja, ja, ja.

Fakt ist doch: Ich kann es nicht. Gott empfangen – dazu fühle ich mich nicht in der Lage. Ich bin schon mit dem Gedanken überfordert, dass an Heiligabend die Wohnung so hergerichtet sein muss, dass andere Menschen kommen können.

Und dann, in den ruhigen Stunden der Adventszeit, da höre ich manchmal eine Stimme. Aus dem Off, ganz leise, die mir zuflüstert: „Ich komme nicht. Du brauchst dich nicht vorzubereiten.“

Es ist eine Stimme, die mir sagt: „Ich muss nicht zu dir kommen, denn ich bin schon da.“

… zum Frieden


Dritter Advent. Friedenslichtsonntag. Jedes Jahr machen sich einige hundert Pfadfinder*innen aus verschiedenen Ländern auf den Weg, holen eine kleine Flamme ab, die in Bethlehem angezündet wurde, und bringen dieses Lichtlein zu ihren Freund*innen, in ihre Gemeinden und ihre restliche Umwelt. Eine schöne Geste, dieses Friedenslicht.

Mich begeistert dieser Gedanke trotz allem jedes Jahr aufs Neue. Etwas Kleines, das geschützt werden muss, reist um die Welt. Wird weitergegeben. Und vor allem: Es setzt Menschen in Bewegung. Wer kann und will, bewegt sich zu einer Aussendungsfeier, nimmt eine Kerze in die Hand, zündet sie an der der/des Nachbar*in an, passt auf, dass kein Wachs auf Jacke, Schuhe oder Hand der/des Selbigen tropft, wacht mit Adleraugen über die Flamme an der eigenen Kerze und hält schützend eine Hand darum, damit sie nicht ausgeht.

Wer nicht kommen kann, aber gerne ein Friedenslicht daheim hätte, findet meistens (so meine naive Hoffnung) einen Weg. Freund*innen, Bekannte oder die Sternsinger*innen bringen das Licht vorbei. Und dann vollzieht sich die gleiche Bewegung immer wieder: Kerze in die Hand nehmen, anzünden, aufpassen, bewachen, beschützen… Das immer wieder zu beobachten, macht mir irgendwie Hoffnung. Hoffnung, dass wir nicht nur lernen, auf eine kleine Flamme aufzupassen, sondern auch, aufeinander aufzupassen. Auf die Hände unserer Nächsten aufzupassen, dass sie keinen Schaden tragen. Egal, wem sie gehören.

Auf dem Weg…

In den letzten Tagen habe ich mich mit den Vorbereitungen zum diesjährigen Friedenslicht beschäftigen dürfen. Das Motto in diesem Jahr, „Auf dem Weg zum Frieden“, fand ich am Anfang zugegebenermaßen recht unkreativ – nicht fancy, nicht spannend genug.

In den letzten Tagen aber habe ich für mich gemerkt, dass es tatsächlich gut in diese Zeit passt (und die braucht meiner Meinung nach gerade echt nicht mehr Lametta). Es spricht für mich eine realistische Sprache: Frieden, den gibt es noch nicht überall. Im Gegenteil, manchmal kann man das Gefühl bekommen, immer mehr Unfriedensorte entstehen, die Welt gerät immer mehr in Schieflage. Und trotzdem die Hoffnung und den Einsatz für ein weltweit friedliches Miteinander nicht aufzugeben, dazu spricht mir das Motto Mut zu. Und auch die Aufforderung: für den Frieden muss man sich bewegen, auf den Weg machen.

Ein Lied, das ich nicht verstehe

Ben Hofer - Du und I - Die Standesbeamtin Soundtrack

Die schweizerische Liebeskomödie „Die Standesbeamtin“ (Was für ein romantischer Name) beginnt mit dem Lied „Du und I“. Eine, wenn man den Text versteht, sicher sehr schnulzige und herzzereißende Liebesballade. Passend zum Film. Wenn man den Text versteht? Korrekt. Denn der ganze Film ist auf schwizerdütsch. Heißt für mich: Ich verstehe kein Wort. Also das ist jetzt auch übertrieben: Ein zwei Happen verstehe ich schon, aber ohne Untertitel hätte ich mir genauso gut auch einen französischen Film anschauen können.

Seitdem ich den Film 2010 in der SneakPreview gesehen habe, geht mir das Anfangslied „Du und I“ nicht mehr aus dem Kopf. Immer mal wieder stoße ich darauf und höre es mir in Dauerschleife an. Es hat zum einen etwas beruhigendes , zum anderen, und an dieser Stelle könnte man mich für verrückt halten, ist es sehr angenehm, dass ich zwar etwas, aber nicht alles vom Text verstehe. Es gibt auch keinen Liedtext online, wo ich mal nachschauen könnte. Ich reime mir einfach den Sinn zusammen. So ist das zwar nicht exegetisch korrekt, aber dafür gibt es immer wieder eine Textzeile die mir im Kopf bleibt.

Verrückt, oder?

Ein Freund bleibt ein Freund…

Nachtschicht auf dem Rettungswagen, gegen halb zwölf ruft uns der Melder zu einem Notfalleinsatz. Ein gestürzter Mann auf der Straße – die Passant*innen, die den Herrn umsorgend versuchen in der stabilen Seitenlage zu halten, berichten, er sei umgefallen wie ein Brett. – Kein Wunder, denn die zwölf großen Bier, von denen er berichtet, gingen nicht spurlos vorbei.

Es ist ein Klassiker: ein wohnungsloser Mann, nur einige Jahre älter als ich, nach einem Streit mit Verwandten hat er seinen Frust kräftig im Hopfensaft ertränkt. Während unserer Versorgung wiederholt er seine Fragen, und  schildert seine Eindrücke von dieser Welt und seinem Leben. Die Situation – in einem Rettungswagen liegend und nicht mehr wissend, was geschah – kränkt ihn,  ist ihm peinlich. Er weint. Ich hoffe, dass das Wechselbad der Gefühle nicht in Aggression umschlägt, wie es auch durchaus mal vorkommt. Klientelpolitik, bei der ich mich selbst erwische, da sie keinerlei Relevanz für die Versorgung und die Situation hat.

Wir reden ihm gut zu, wiederholen geduldig, fast mantraartig unsere Maßnahmen und unsere nächsten Schritte. „Ein Freund bleibt ein Freund“, sagt er immer wieder. Er glaubt, wir seien uns schon mal begegnet und fantasiert mich in abstruse Situationen seines Lebens.

In der Klinik hockt er in der Notaufnahme auf einer Trage und ruft mich zu sich, er bietet mir den Platz neben sich an, den ich etwas zurückhaltend doch einnehme. Dann stützt er sich mit dem Arm auf meiner Schulter ab und erklärt mir noch einmal „ein Freund bleibt ein Freund“ und bedankt sich per Handschlag für unsere Versorgung. Für die Klinik-Kolleg*innen ein etwas seltsames Bild: der rot-blau leuchtende Uniformträger nebst der Alkoholfahne, die wie zwei Freunde auf einer Mauer sitzen und über das Leben sinnieren. Einerseits mag ich diese Nähe nicht mit diesem fremden Menschen, andererseits sehe ich, dass es ihm gut tut – und mir nicht weh.

Für mich eine kurze Begegnung, eine Mission, die mir wieder einmal zeigt wie die in unserer Gesellschaft, in unseren Vorurteilen, in unserer Welt untergehen, die wenig bis nichts haben. Ihre Wünsche nach einem „normalen“ Leben, nach verlässlichen Freund*innen – wer kennt sie nicht? Ich wünsche, er findet ihn*sie: der*die Freund*in, der*die ein*e Freund*in bleibt.

Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.