Wutfahrerin

Ich sage es offen heraus: Am Steuer eines Autos hört mein Mensch-Sein auf!

Denn sobald ich die Wagentür zuschlage, den Motor starte und die Boxen meiner Musikanlage bis zum Anschlag aufdrehe, lege ich auf wundersame Weise das ab, was mir sonst als Mensch, als Christin, als Madeleine doch so wichtig ist:

Meine Freundlichkeit und Gelassenheit verwandelt sich in blanke Wut über den Sonntagsfahrer, der vor mir auf der Landstraße mit 60 km/h rumschleicht, während ich ihm die Pest und noch viel schlimmere Dinge an den Hals wünsche und ihm so nah auffahre, dass ich fast die Maschen seiner umhäkelten Klorolle zählen kann.

Mein ökologisches Bewusstsein weicht meiner Bequemlichkeit, weil ich es viel angenehmer finde, morgens mit meinem Auto hoch zur Uni zu fahren, als die viertel Stunde früher das Haus zu verlassen, zur Bushaltestelle zu pilgern und – für ganze sieben Minuten – in einem gar nicht so überfüllten Bus zu stehen.

Meine Ehrlichkeit und mein Gerechtigkeitssinn verabschieden sich in dem Moment, in dem ich mich auf den Mutter-Kind-Parkplatz stelle oder anstatt ein Ticket zu ziehen, es mal wieder darauf ankommen lasse. Von den Geschwindigkeitsüberschreitungen mal ganz zu schweigen.

Meine Sorge um mich und meine Mitmenschen verschwindet dann, wenn ich während der Fahrt zum Handy greife und in den WhatsApp-Familienchat schreibe, dass ich in 20 Minuten zu Hause sein werde, oder wenn ich auf der Autobahn bei schmierig-nasser Strecke einen LKW überhole, nur damit ich die eine Minute früher an meinem Ziel ankomme.

Viel zu oft läuft das so. Aber wieso mache ich das? Wieso lasse ich es mir selbst durchgehen, dass ich als Autofahrerin meine moralischen Prinzipien und das, was mich ausmacht, über Bord werfe, es quasi in der Welt außerhalb meines PKWs zurücklasse, während ich in ein nach Wunderbaum duftendes Paralleluniversum eintauche, in dem ich zu einer Wutfahrerin mutiere? Bedeutet Mensch-Sein, Christ*in-Sein, Madeleine-Sein nicht auch, es 24/7 zu sein? Daran muss ich arbeiten.

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Jeden Tag ein neues Törchen. Dieser Beitrag ist Teil unseres Adventkalenders 2016 zum Thema Mensch werden. Alle weiteren Einträge findest du in unserem Archiv unter Adventskalender 2015 oder in unserem Online Adventskalender.

Sonnenstrahlkraft

Es ist vier Uhr am Nachmittag, die Sonne hat sich hinter Wolken und Nebel versteckt. Ich bin müde und mache ich mich auf den Weg nach Hause. Eigentlich hätte ich noch Uni – aber die letzte Vorlesung lasse ich sausen. Das ist heute einfach nicht mehr drin…

Mein Auto scheint fast von allein zu fahren. So ist das, wenn man einen Weg wieder und wieder fährt. Die Gewohnheit sitzt am Steuer und lässt einen abstumpfen: für die Umwelt, die andern, das Leben.

Aber das ist mir auch heute ganz recht so – erst mal das Radio aufdrehen. In meinem Auto schotte ich mich ab: vom Nachdenken, von mir, und auch von Gott.

Und dann passiert es plötzlich, auf dem Weg nach unten übersehe ich ein Schlagloch. Ich schrecke auf und schaue mich um… und sehe es. Ich kann es nicht in Worte fassen. Wahre Schönheit: Die Sonne, gerade im Begriff unterzugehen. Das Bild brennt sich mir ein. Ich drehe die Karre um und halte an einer Bushaltestelle. So was habe ich schon lange nicht mehr gesehen: Wie die Sonne hinter Nebelschwaden durchbricht, plötzlich noch einmal alles gibt und mir ihr Leuchten schenkt… wunderbar.

Es ist noch anderen wie mir ergangen. Sieben, acht Leute haben angehalten, sind ausgestiegen. Sie haben ihren Alltag zurückgelassen und stehen jetzt hier. Andächtig sehen wir zu. Eben noch im alten Trott verfangen, schauen wir jetzt einfach nur stumm zu und genießen. Niemand macht Fotos, jedem*r ist klar: Das hier lässt sich nicht einfangen. Nach zwei Minuten ist alles wieder vorbei.