Wir haben’s verteidigt – bauen’s gemeinsam wieder auf!

Auf dem Boden liegen Tote, in der Luft Tränengas, in der Luft Tränengas.
Ich bin noch gar nicht richtig hier, schon sterben Menschen neben mir…

2015 habe ich zum ersten Mal „Feine Sahne Fischfilet“ live gesehen. Entstanden ist dabei zwischen ihrer Musik und meinem Herz für deutsche Punkmusik eine innige Liebesbeziehung, die in vielen wilden Konzerten mündete.

Zwei Straßen weiter spielen Kinder. In der Stadt riecht es nach Blut. Überall riecht es nach Blut.

Nur wenige Tage nach meinem ersten Konzert ist der Sänger der Band, Monchi, mit einer Hilfsorganisation in die türkisch-syrische Grenzstadt Suruc gereist. Sie wollten Hilfsgüter in die benachbarte und vom IS besetzte Stadt Kobane bringen.

Samstag noch im Rampenlicht. Jetzt steh‘ ich hier und schäme mich. Bald bin ich wieder Zuhaus‘. Sag‘, wie haltet ihr das aus?

Dort entgingen sie selbst nur knapp einem verheerenden Anschlag von Terrorist*innen des IS. Im gleichnamigen Lied Suruc werden die Erfahrungen dieser Stunden verarbeitet, für mich das emotionalste Lied des neuen Albums.

Die Verzweiflung trübt die Sicht. Unsere Tränen kriegt ihr nicht.

Denn das Lied bleibt nicht in der Verzweiflung stehen. Der Refrain berichtet von einer Demonstration der Einwohner*innen am nächsten Tag. Dort wurde ein Plakat gezeigt mit der Aufschrift: „Wir haben’s verteidigt – bauen’s gemeinsam wieder auf!“

Menschen, die schon lange vorher regelmäßig vom IS drangsaliert wurden, nehmen eine Tragödie hin. Nicht mit Hass. Nicht mit Gegengewalt. Nicht mit innerer Verbitterung.

Wir haben’s verteidigt, bauen’s gemeinsam wieder auf!
Es bleibt dabei – du wirst nie verlieren, solang ihr an euch glaubt!

Diese Menschen sind für mich Vorbilder! Vieles droht zusammenzubrechen. Vieles ist zusammengebrochen. Vieles muss wieder aufgebaut werden. Vieles wird wieder aufzubauen sein. In meinem privaten Leben wie in unserer Gesellschaft. Ich will nicht darüber klagen, ich will nicht weinen. Ich will verteidigen und aufbauen und ich weiß genau, ich werde nicht verlieren, solange ich an all das glaube, wofür ich einstehe.

Vor einigen Tagen habe ich Feine Sahne Fischfilet mal wieder live gesehen. Nie habe ich eine Zeile bei einem Konzert so mitgeschrien wie diese: „Wir haben´s verteidigt, bauen´s gemeinsam wiederauf!“

FEINE SAHNE FISCHFILET - SURUC

Credo in unum n+1

Ich werde häufig gefragt, wie denn die beiden Fächer, die ich studiere, überhaupt zusammen gehen: Theologie und Mathematik. Die Theologie basiert doch rein auf Glauben und die Mathematik ist eine rein rationale Wissenschaft, die so viel mit Beweisen arbeitet. Doch am Anfang der Mathematik steht etwas, das der Mathematiker nicht beweisen kann: ein Axiom – ein Glaubensgrundsatz, wenn du so willst.

Wenn du dich einmal mit der Struktur und dem Aufbau der Mathematik auseinandersetzt, wirst du verschiedenen Axiomen begegnen, die sicher nicht alle gleich schnell zu durchdringen sind. Eines ist mir jedoch in den Jahren meines Studiums besonders hängen geblieben: „Jede natürliche Zahl n hat genau einen Nachfolger n+1.“ Vereinfacht bedeutet das: Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen (1, 2, 3,…). Das klingt so banal und einleuchtend. Und doch bleibt dem*r Mathematiker*in nichts anderes übrig als daran zu glauben, denn zu beweisen ist ein Axiom nicht.

Jetzt habe ich ja aber kein Problem mit Glauben, doch wenn ich versuche, mir die Unendlichkeit vorzustellen, dann gerate ich immer wieder an die Grenzen meines Verstands. Die Unendlichkeit lässt sich mit dem Verstand nicht einfangen – geschweige denn wurde sie von einem solchen erschaffen. Sie war schon immer da. Und für mich ist sie damit ein Hinweis auf den, der mich erschaffen hat, auf meinen Schöpfer.

Also um die Ausgangsfrage zu beantworten: Das geht schon gut zusammen – mit der Mathematik und der Theologie. Denn für mich steckt auch in der Mathematik ein Stück Göttlichkeit.

Regen

Wenn es regnet, jogge ich immer nur im Kreis.

Ich laufe zu einem Parkplatz, der gerade mal 50 Meter von meiner WG entfernt ist; Runde um Runde. Ich gucke auf den Boden und habe eine Kapuze auf.

Ich mache das, damit ich, falls es mir zu nass oder zu kalt wird, schnell wieder nach Hause kann.

Ich wohne in einer schönen Stadt. Es gibt einen Park, einen Fluss mit Enten darauf und einen kleinen Wald. Aber wenn es regnet, gibt es für mich nur den Parkplatz und den Blick auf meine Laufschuhe. Manchmal frag ich mich, was das über mich aussagt. Was denken andere Leute, wenn sie mich immer im Kreis laufen sehen? Was denke ich da über mich? Bin ich zu ängstlich? Scheue ich das Risiko? Vermutlich von allem ein Bisschen. Aber egal was ist, irgendwie wünsche ich mir immer mehr als meine Runde, auch im Regen, auch in der Kälte, auch in Trauer, auch in Einsamkeit.

Eigentlich wünsch ich mir, dass ich mich traue meine Kapuze zurückzuschlagen, die kalten Tropfen auf meinem Gesicht zu spüren, zu dem Fluss zu laufen, mir die Enten anzuschauen, denen der Regen auch nichts ausmacht, lachend nach Hause zu laufen und zu wissen, dass sich das Neue gelohnt hat.

Gestern hat es nicht geklappt, aber ich glaube jetzt, da ich weiß, dass ich es will, kann ich es auch.

Bei deinem Namen genannt

Herzlichen Glückwunsch zum Namenstag an jeden Lazarus, jede Jolanda und jede Viviana!

Mit dem Thema Namenstag bin ich persönlich immer nur durch meine Oma in Berührung gekommen und habe bis vor kurzem auch geglaubt, ich hätte mit meinem ersten Vornamen gar keinen Namenstag. Das hat mich nicht weiter gestört, Hauptsache, mein Geburtstag wird gebührend gefeiert.

Als ich aber vor Kurzem mal genauer nachgeforscht hab, habe ich rausgefunden, dass es für den Namen „Vivian“ sogar drei Tage im Jahr gibt: der 28. August, der DEM heiligen Vivian geweiht ist (Das fiel schon mal flach.), der 2. Dezember, Santa Bibiana, und der 17. Dezember, also heute. Heute feiert die Heilige Viviana von Brüssel Namenstag: Sie hat ein Kloster gegründet und dort als Äbtissin die Benediktsregel eingeführt.

Wow. So weit, so unspektakulär. Beim Weiterlesen erfuhr ich aber, dass sie wohl der Legende nach eine bereits erloschene Kerze wieder zum Brennen gebracht haben soll, weshalb die Kerze auch ihr Zeichen ist.

Weil ich mit meinem Namen ein lebendiges und lebensbejahendes Lebensgefühl verbinde (Vivian, die Lebendige von lat.: vivus = lebendig), fand ich die Tatsache mit der Kerze auf einmal spannend. Leben verbinde ich mit Tageslicht, mit dem Strahlen der Sonne, mit dem neu erwachenden Leben im Frühling. Das alles kommt im Winter leider viel zu kurz. Da helfen nur Kerzen, Kerzen und nochmal Kerzen.

Wie gut, dass ich bei der Kirche arbeite, ohne Kerzen geht da eh nichts. Und vor allem im Advent: Der steigenden Dunkelheit gehen wir Christ*innen mit steigender Anzahl der Lichter entgegen. Das Licht, das in der Dunkelheit leuchtet, ist allgegenwärtig. Dass meine Namenspatronin für das Aufflammen einer bereits erloschenen Kerze verantwortlich gemacht wird, kommt mir jetzt wie ein Auftrag an mich selbst vor: Bei all der Dunkelheit in der Welt will ich Lichtbringerin für andere sein und dabei aus dem Schatz meiner inneren Lebendigkeit schöpfen.

Meinen Namen fand ich schon immer schön. Aber jetzt verbindet mich mit ihm mehr als sein schöner Klang und der tolle Zufall, dass ich mich so fühle, wie ich heiße.

Wofür will ich Vorbild sein?

Wann bin ich ein gutes Vorbild? Diese Frage beschäftigt mich, seitdem ich vor drei Jahren Vater geworden bin – und in diesem Jahr ganz besonders. Grund dafür war die MHG-Studie oder wie sie ungeschönter im Ganzen heißt: „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.

Ich bin zwar kein Beschäftigter der katholischen Kirche, aber heruntergebrochen besteht der größte Teil meiner Arbeit darin, die Kommunikation kirchlicher Institutionen zu verbessern, um eben wieder Menschen zu erreichen. Ich werbe für den Glauben und ich helfe beim Werben für die Kirche.

Die Frage nach der eigenen Vorbildrolle ist für mich die Frage nach der Übernahme von Verantwortung für meine Handlungen. Ich weiß nicht, wie ich diesen Konflikt auflöse. Ich weiß aber, dass ich mit meiner Arbeit in der Gegenwart Zukunft gestalte. Dass ich mit dem, was ich tue, zeige, was ich für richtig halte.

Ich bin sicherlich nicht immer das beste Vorbild, aber ich weiß, dass wenn ich meiner Tochter zeigen will, wie es auch anders geht, ich nicht bei dem bleiben kann, was gerade ist.

You can’t be what you can’t see.


Marian Wright Edelman – Gründerin und Vorsitzende der Children’s Defense Fund

Maßvoll

Dunkelheit. Wenige flackernde Lichter. Ich sitze auf einer Bank. Meine Gedanken kreisen.

„Du schaffst das!“ „Halte durch!“ „Du bist so kurz vor der Ziellinie, los, komm schon!“

Was, wenn ich es nicht schaffen will? Was, wenn ich entscheide aufzugeben? Ständig scheint mein Umfeld zu schreien, du brauchst mehr, mehr Arbeit, mehr Geld, mehr Mode, mehr Freund*innen, mehr Connections, mehr Events, mehr Leben.

Ich bin voll. Mein Maß ist voll – nein es ist übervoll. Seit Monaten ist es übervoll.

Und ich frage mich, wo ist eigentlich ein Platz fürs Scheitern? Fürs Aufgeben? Für unerfüllte Pläne? Für nie wahrgewordene Hoffnungen und Wünsche? Solche Geschichten möchte eigentlich niemand hören. Vielleicht wegen der Angst vor den Gefühlen, die sich dann einstellen. Leere, Trauer, Einsamkeit.

Auf meiner Bank laufen mir ein paar Tränen die Wange herunter. In den Schmerz mischt sich aber auch eine tröstliche Erkenntnis. Ich bin angenommen, genauso wie ich bin. Ich muss nichts leisten, nichts besitzen, nichts vollbringen, ich reiche aus, genauso wie ich gerade hier bin. Manchmal kann ich diese Botschaft nicht nur denken, sondern auch fühlen. Ein Weihnachtsgefühl. Mein Weihnachtsgefühl. Schon heute.

Halbzeitpause

Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich Fußball gespielt. Zugegebenermaßen war das nie von sonderlich viel Erfolg gekennzeichnet, im Gegenteil. Ich war der Spieler, der seinen Platz auf der Ersatzbank nur dann aufgeben musste, wenn nicht genügend Mitspieler zum Spiel da waren. Kam es einmal zu dieser Katastrophe, galt die Devise möglichst den Ball zu meiden, dafür aber mit selbstbewussten Antritten und Laufwegen den Gegner zu verwirren, um so Räume für die eigenen Mitspieler zu schaffen. Meistens ist diese Taktik nach zwei Minuten aber aufgefallen, sodass ich den Rest der Zeit mit sinnlosem Hin- und Herlaufen verbracht habe.

So galt es die Spielzeit bis zur Halbzeitpause totzuschlagen. Diese schöne Zeit, die man in der Kabine verbringt, ohne die Sorge zu haben, mit weiteren Peinlichkeiten auf dem Platz aufzufallen.

Halbzeit. Eine wunderbare Zeit. Dabei war die Kabine unter den Maßstäben eines geschlossenen Raumes meist mindestens genauso hässlich wie mein Fußballspiel; zu klein, zu kalt, zu stinkend. Aber sie wurde zum Sehnsuchtsort, weil das Spielen meist noch schlimmer war.

Heute hat der Advent Halbzeit. Vieles habe ich mir für diese Zeit vorgenommen. Die Zeit etwas bewusster gestalten, mehr Zeit für mich und das Gebet nehmen, sozial aktiver sein, auf andere Menschen mehr Rücksicht nehmen. Vieles davon ist bisher etwa so erfolgreich gelaufen wie mein Fußballspiel. Leider ist der Advent auf den ersten Blick unbarmherziger als ein Fußballspiel. Es gibt keine Kabine, keine Halbzeitpause.

Aber dafür gibt es etwas anderes: Die Hoffnung, dass das alles nicht so aussichtslos ist wie mein Versuch, Fußball zu spielen. Ich will hoch von der Ersatzbank meines immer wieder zu trägen Menschseins, ich will raus auf den Platz.

Eine Fahrt für den Weltfrieden

Ich fahre gerne mit Mitfahrgelegenheiten und lerne dabei immer neue Leute kennen. Die Begegnung auf meiner letzten Fahrt nach Freiburg begann wie einer dieser schlechten Witze. 

Ein deutscher Kurde, gerade erfolgreich seinen Hauptschulabschluss auf der Abendschule gemacht, gläubiger Muslim. Eine Tunesierin, Assistenzärztin und seit wenigen Monaten in Deutschland, glaubt an Gott, sieht sich aber nicht in einer Religion gebunden. Und eben ich, ein katholischer Religionslehrer. Wir drei in einem Auto und mehr als zwei Stunden gemeinsame Fahrt. Wir drei leben in völlig unterschiedlichen Welten, wurden unterschiedlich sozialisiert und haben für einen kurzen Augenblick ein gemeinsames Ziel: Freiburg. Ansonsten gehen unsere Vorstellungen mal mehr mal weniger weit auseinander. 

Mit der Tunesierin bin ich mir einig über die negativen Seiten von Religion und warum sich Menschen auch abwenden können, wenn sie bspw. als Frau systematisch diskriminiert werden. Für sie gilt als Ärztin aber auch stets der Primat der Wissenschaft. Ganz anders mein zweiter Mitfahrer. Viele würden ihn als naiv gläubig beschreiben. Er fordert uns allerdings auch heraus, indem er ganz selbstverständlich Allah als den Schöpfer der Erde in sechs Tagen sieht und keinen Zweifel an der lenkenden Hand Gottes im Leben aller Menschen zeigt. Eine lebendige Diskussion entsteht über Vorstellungen von Leben nach dem Tod, Himmel und Hölle, Allah, Prophet*innen usw.

Dann schweigen wir eine Zeit lang. Alles wurde gesagt und die Standpunkte scheinen klar zu sein. Ich denke mir, dass in einem Witz jetzt die Pointe kommen müsste. Treffen sich drei Fremde in einem Auto und dann etwas Unvorhergesehenes. Wir nähern uns Freiburg und zum ersten Mal auf der Fahrt hört es auf zu regnen. Der Himmel öffnet sich und die Sonne glitzert durch einen kleinen Spalt in der Wolkendecke.

Wir reden weiter, doch diesmal geht es um das Leben, den Umgang mit den Mitmenschen, Moral und kurz bevor wir ankommen sind wir uns einig: Alle Menschen sind gleich. Unsere Vorstellungen von Religion, Glauben und Gott gehen wahrscheinlich zu weit auseinander. Letztlich bleiben wir bei diesen Themen auch immer Suchende und Fragende. Wenn es aber um das konkrete Leben auf der Erde und in unserem Auto geht, dann wollen wir Frieden und gleiche Rechte für alle.

Tage danach

Eigentlich müsste es doch schon längst da sein. Eigentlich müsste es doch schon längst passiert sein. Was genau? Kann ich nicht sagen. Aber manchmal packt mich dieses ungute Gefühl, dass gerade eigentlich etwas anderes dran wäre.

Dass jenes, womit ich gerade beschäftigt bin, nicht das ist, womit ich gerade beschäftigt sein sollte. Ganz ohne Gegenvorschlag. Ohne aufzuhören mit dem, was ich jetzt mache.

Und dann: Tage danach packt es mich. Dann fällt mir etwas ein, was so präzise ist, dass es unmöglich plötzlich in meinen Sinn kommen konnte. Tage danach fällt mir auf, dass ich bereits die ganzen Tage daran gearbeitet habe.