Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!

fasten(brechen)

Meine Idealvorstellung der Fastenzeit sieht so aus: Fremdbestimmung und alltägliche Abhängigkeiten erkennen, hinterfragen, bestmöglich unterlassen. In den letzten Jahren habe ich alibimäßig und einigermaßen erfolgreich Fleisch gefastet. Dieses Jahr versuche ich meine Prämisse ernst zu nehmen: ich faste Alkohol und Zigaretten. Warten an der Bushaltestelle gestaltet sich plötzlich völlig anders. Was machen Nichtraucher*innen denn da? … Weiterlesen …

Zwangsheirat mit dem Prüfungsstoff

Die Freude über das neue Jahr hält bei mir nie sehr lange an, denn wie jeden Januar steht sie vor der Tür: Die allbekannte und immer herzlich begrüßte Prüfungsphase.

In dieser Zeit führe ich über mehrere Wochen mit meinen Prüfungsstoff eine Beziehung. Ich stehe morgens mit den Prüfungsinhalten auf, sie begleiten mich bis zum Bad, warten dann aber anstandshalber vor der Tür. Von dort aus rufen sie mir zu mich zu beeilen und auch das Frühstück sollte ich nicht länger als nötig hinziehen.

Nette Gespräch mit meiner Mitbewohnerin? Bei Freund*innen melden? Das kommt nicht in Frage!

Schließlich ist es nur die Beziehung zu den Prüfungsinhalten, die ich wirklich brauche. Über die Wochen hinweg werden sie mir immer vertrauter. Komischerweise fange ich an sie zu vermissen, wenn mich etwas anderes in Anspruch nimmt. Wenn ich mich dann endlich wieder nur ihnen zuwenden kann, ist es, als ob mein Herz, sich von einer langen Reise erholend, wieder zur Ruhe kommt.

Schlafen gehen wir natürlich auch zusammen. Ich liege rechts und meine Inhalte, naja, die liegen auch rechts und belagern sogar meine linke und meine rechte Gehirnhälfte. Da wird im Traum schon einmal überlegt, wie der Konjunktiv II des Verbs „sein“ gebildet wird (Nicht dass man es am Tag nicht wüsste!) oder was Henry de Lubac für einen Rhythmus für das christliche Leben verordnet.

Aber Moment mal! Für Lubac ist es der Dreischritt des Wurzelfassens, des Loslösens und Wandelnlassens der den Takt des Tages bestimmen sollte. Am Beginn eines Tages sollte das stehen was mir, unabhängig von der Prüfungszeit, tief im Inneren wichtig ist. Es sollte mein Mittelpunkt sein und so auch meinen Tag mitbestimmen! Denn der Prüfungsstoff  verlässt mich nach der Prüfungsphase wieder, aber das, was tief in mir ist, das begleitet mich weiter.

Von Zeit zu Zeit Chaos

Es könnte so einfach sein mit diesen Deadlines, diesen Abgabeterminen, diesen unerwartet auftauchenden Fristen, die ich dann doch immer wieder mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss. Wie bei diesem Text hier: In paar Minuten soll er online gehen. Und ich? Ich hatte bis gestern noch nicht einmal eine Idee, worüber ich schreibe. Es könnte so einfach sein, denn Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“

Also rein theoretisch hätte ich immer genügend Zeit für meine Sachen. Theoretisch hätte ich aber auch das Latinum besser als mit ausreichend bestehen können. Es ist dann doch immer wieder die Praxis, die mir aufzeigt, dass scheinbar alles unter dem Himmel seine Zeit hat, aber die Anzahl der Stunden und wie ich sie nutze dann doch in meiner Verantwortung bleibt.

Denn auch wenn alles eine Stunde hat, so lasse ich mich oft dazu verleiten, die Stunden der Sachen parallel zu legen. So kommt es von Zeit zu Zeit zum Chaos; aber auch das hat seine Zeit.

Warten auf den Frühling

Vergangene Woche bin ich durch mein tief verschneites und winterliches Heimatdorf spaziert. Ein solcher Spaziergang ist für mich immer mit vielen Erinnerungen verbunden. Sowohl an direkt erlebte Ereignissen als auch allgemeinerer Natur an eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Ganz schön merkwürdig mit 24 Jahren eine solche Aussage zu treffen.

Doch es gibt viele Orte in meinem Dorf, die mir dies deutlich bewusst machen: Die Bank unterhalb des Friedhofs, auf der immer ein älterer Herr saß, ist meistens leer, vor dem Haus an dem ich gerade vorbeispaziere steht kein Stuhl, obwohl früher immer dort eine Frau saß und sich mit den Vorbeikommenden über das Wetter unterhielt, und auch der Dorfladen, der von einer älteren Dame geleitet wurde, die immer, schon bevor ich den Laden richtig betreten hatte, mein Lieblingseis in der Hand hielt, ist geschlossen. All diese Orte und ihre Personen waren für mich feste Institutionen, die das Leben hier ausmachten. Nun sind sie nicht mehr da.

Das macht mich sehr traurig. Nicht nur, weil ich diese Personen vermisse, auch weil ich immer wieder spüre, wie sehr diese Personen dem Leben und dem Geist hier fehlen. Manchmal bekomme ich Angst, dass die doch recht wenigen jungen Menschen im Dorf diese Lücken nicht füllen können. Es scheinen mir immer weniger Schultern zu sein, auf denen das Dorfleben lastet.

Manchmal glaube ich, dass aus dem goldenen Herbst in meinem Dorf ein bitterkalter Winter geworden ist.

Doch bei diesem winterlichen Spaziergang fielen mir Plakate auf: Zum Einen wird zum ersten Mal ein Disco-Fox-Kurs angeboten, zum Anderen ist mein Dorf jetzt an ein Netz eines sogenannten Bürger*innenbusses angeschlossen, mit dem Senior*innen einfach und kostengünstig zum Supermarkt oder zu Ärzt*innen fahren können. Beim Lesen dieser Plakate wurde ich davon abgelenkt, dass zwei Kinder, die gerade einen Schneeiglu gebaut haben, mit ihrer Mutter diskutierten, ob sie jetzt wirklich nach Hause kommen müssen. Nach einigem Protest gingen die Kinder an mir vorbei auf dem Weg nach Hause. Genau als sie an mir vorbeikamen sagte eins zum anderen: „Guck nicht so traurig! Morgen kommen wir bestimmt wieder!“

Da stand ich tief im Schnee mit der dicken Jacke in meiner Winterstimmung und es kam mir ein älteres Lied der Sportfreunde Stiller in den Sinn, mit dem ich mich dann aber doch selbst ermahnen musste:

„Und ich warte mal wieder auf den Frühling!
Man kann nicht nur traurige Lieder singen,
doch bald werden sie wieder anders klingen,
wenn die ersten Sonnentage Wärme bringen!“

Sportfreunde Stiller - Frühling

Immer noch Mensch…

Nichtsahnend stand ich an einem Dienstag im Dezember an einer Bushaltestelle in Trier-Heilig Kreuz. Ich wartete auf den Bus, als ich völlig belanglos über die Straße aufblickte, eine Plakatwand entdeckte und mir dann die Worte, die dort standen, ins Herz stachen:

„Immer noch Mensch“

So heißt das aktuelle Album von Tim Bendzko, womit er 2017 auf Tour geht und dafür wirbt die Plakatwand.

Diese drei Worte haben mich in dem Moment voll erwischt.

Bei allem, was in meinem Leben schon so passiert ist, bin ich IMMER NOCH MENSCH…

Trotz all der Menschen, die ich schon verloren habe (und dazu müssen sie nicht gleich gestorben sein), bin ich IMMER NOCH MENSCH…

Mit allem, was in diesem Jahr los war, und wenn ich so drüber nachdenke, war das eine ganze Menge schöner aber auch nicht so schöner Dinge, bin ich IMMER NOCH MENSCH…

… Oder vielleicht gerade deswegen?

Tim Bendzko - Keine Maschine (Offizielles Video)

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Jeden Tag ein neues Törchen. Dieser Beitrag ist Teil unseres Adventkalenders 2016 zum Thema Mensch werden. Alle weiteren Einträge findest du in unserem Archiv unter Adventskalender 2015 oder in unserem Online Adventskalender.

Die Menschenwürde

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Was unantastbar ist, ist… ja, was denn eigentlich?

Unverhandelbar.

Nicht einschränkbar.

Grenzenlos.

Aber warum muss etwas, das unantastbar ist, dann überhaupt geschützt werden?

Navid Kermani nennt den ersten Satz unserer Verfassung ein „Paradox„, und doch „vollkommen„.

Menschenwürde ist eine dieser Vokabeln, die jeder kennt – oft benutzt.

Ein schönes Wort.

Die Menschenwürde…

Aber sind wir uns immer darüber bewusst, was sie beinhaltet?

Woher sie kommt?
Wohin sie führt?
Warum sie da ist?

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Wutfahrerin

Ich sage es offen heraus: Am Steuer eines Autos hört mein Mensch-Sein auf!

Denn sobald ich die Wagentür zuschlage, den Motor starte und die Boxen meiner Musikanlage bis zum Anschlag aufdrehe, lege ich auf wundersame Weise das ab, was mir sonst als Mensch, als Christin, als Madeleine doch so wichtig ist:

Meine Freundlichkeit und Gelassenheit verwandelt sich in blanke Wut über den Sonntagsfahrer, der vor mir auf der Landstraße mit 60 km/h rumschleicht, während ich ihm die Pest und noch viel schlimmere Dinge an den Hals wünsche und ihm so nah auffahre, dass ich fast die Maschen seiner umhäkelten Klorolle zählen kann.

Mein ökologisches Bewusstsein weicht meiner Bequemlichkeit, weil ich es viel angenehmer finde, morgens mit meinem Auto hoch zur Uni zu fahren, als die viertel Stunde früher das Haus zu verlassen, zur Bushaltestelle zu pilgern und – für ganze sieben Minuten – in einem gar nicht so überfüllten Bus zu stehen.

Meine Ehrlichkeit und mein Gerechtigkeitssinn verabschieden sich in dem Moment, in dem ich mich auf den Mutter-Kind-Parkplatz stelle oder anstatt ein Ticket zu ziehen, es mal wieder darauf ankommen lasse. Von den Geschwindigkeitsüberschreitungen mal ganz zu schweigen.

Meine Sorge um mich und meine Mitmenschen verschwindet dann, wenn ich während der Fahrt zum Handy greife und in den WhatsApp-Familienchat schreibe, dass ich in 20 Minuten zu Hause sein werde, oder wenn ich auf der Autobahn bei schmierig-nasser Strecke einen LKW überhole, nur damit ich die eine Minute früher an meinem Ziel ankomme.

Viel zu oft läuft das so. Aber wieso mache ich das? Wieso lasse ich es mir selbst durchgehen, dass ich als Autofahrerin meine moralischen Prinzipien und das, was mich ausmacht, über Bord werfe, es quasi in der Welt außerhalb meines PKWs zurücklasse, während ich in ein nach Wunderbaum duftendes Paralleluniversum eintauche, in dem ich zu einer Wutfahrerin mutiere? Bedeutet Mensch-Sein, Christ*in-Sein, Madeleine-Sein nicht auch, es 24/7 zu sein? Daran muss ich arbeiten.

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Das Sein im anderen

Wenn ich bei Ärzt*innen im Wartezimmer sitze, so wie gestern, widme ich mich grundsätzlich den ausliegenden Klatsch- und Boulevardmedien, da diese mir schließlich erklären, was in ist, was wichtig ist, aber vor allem, wie ich sein soll, was ich tun soll, um glücklich zu sein, und was ich bin. Thema ist immer das eigene Selbst, das Individuum. Was muss ich tun, um mich gut darzustellen? Wie kann ich mich im Berufsleben durchsetzen? Was will ich in meinem jetzigen Lebensabschnitt erreichen? Wie mache ich meine*n Partner*in für mich zu einem*r perfekten Liebhaber*in? Diese Liste an Fragen könnte endlos weitergeführt werden. Sie dreht sich, vom Selbst handelnd, um sich selbst. Mich selbst und mein Ego zum Zentrum machen; das muss es sein, was mich zu einem glücklichen und erfüllten Leben führt, in dem ich mich selbst verwirklichen kann!

Beim Verlassen der Arztpraxis bin ich nachdenklich gestimmt. Sieht so tatsächlich das Geheimrezept des Menschseins aus?

Diese Frage ist immer noch wach in mir, als ich heute morgen unter die Dusche steige. Ich höre im Radio den Sender RPR1 und werde aufmerksam, als deren aktuelle Spendenaktion thematisiert wird, bei der es darum geht, gerade in der Vorweihnachtszeit ein Stück vom eigenen Glück an Menschen in Not abzugeben. In Not ist heute eine Mutter, deren zweijährige Tochter an Krebs erkrankt ist. Der Krebs beeinträchtige nicht nur die Tochter, sondern erschwere auch das Familienleben. Der Wunsch ist groß nach einer Auszeit. Erfüllung findet er durch die Arbeitskollegin der Mutter, die RPR1 auf das schwere Schicksal der Familie aufmerksam gemacht hat.

Die uneigennützige und freundschaftliche Handlung der Kollegin löst tiefe Dankbarkeit, Freude und Aufgelöstheit aus, die sich in diesem Moment in meinem kleinen Bad ausbreitet. War es da nicht? das wahre Menschsein? Das Menschsein, das sich nicht mit sich selbst, mit dem Sein zufrieden gibt? Menschsein begnügt sich nicht mit dem bloßen Sein; es ist Mitsein. Es heißt, nicht für mich, sondern für andere zu sein.

Wo ich andere wahrnehme, da ist, liebe Klatsch- und Bouelevardmagazine, Glück und Erfüllung, da bin ich ganz Mensch und ganz nebenbei auch Gott.

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