Maßvoll

Dunkelheit. Wenige flackernde Lichter. Ich sitze auf einer Bank. Meine Gedanken kreisen.

„Du schaffst das!“ „Halte durch!“ „Du bist so kurz vor der Ziellinie, los, komm schon!“

Was, wenn ich es nicht schaffen will? Was, wenn ich entscheide aufzugeben? Ständig scheint mein Umfeld zu schreien, du brauchst mehr, mehr Arbeit, mehr Geld, mehr Mode, mehr Freund*innen, mehr Connections, mehr Events, mehr Leben.

Ich bin voll. Mein Maß ist voll – nein es ist übervoll. Seit Monaten ist es übervoll.

Und ich frage mich, wo ist eigentlich ein Platz fürs Scheitern? Fürs Aufgeben? Für unerfüllte Pläne? Für nie wahrgewordene Hoffnungen und Wünsche? Solche Geschichten möchte eigentlich niemand hören. Vielleicht wegen der Angst vor den Gefühlen, die sich dann einstellen. Leere, Trauer, Einsamkeit.

Auf meiner Bank laufen mir ein paar Tränen die Wange herunter. In den Schmerz mischt sich aber auch eine tröstliche Erkenntnis. Ich bin angenommen, genauso wie ich bin. Ich muss nichts leisten, nichts besitzen, nichts vollbringen, ich reiche aus, genauso wie ich gerade hier bin. Manchmal kann ich diese Botschaft nicht nur denken, sondern auch fühlen. Ein Weihnachtsgefühl. Mein Weihnachtsgefühl. Schon heute.

Der Letzte seiner Art

04.12.2018 – 23:56 Uhr – Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Zu viele Gedanken treiben mich gerade um. Ich will schlafen. Der Wecker klingelt um 05:20 Uhr. Aber da sind diese Nachtgedanken.

Heute war ich auf der Beerdigung des emeritierten Trierer Weihbischofs Leo Schwarz. Ich bin noch traurig. Nicht weil ich ein besonderes persönliches Verhältnis zu ihm gehabt hätte, vielmehr ist es der Schmerz über den Verlust eines Typus von Kirche – den der Verstorbene personifiziert hat wie kein*e Zweite*r – der mich so traurig macht.

Leo Schwarz hatte sein Leben besonders den Armen dieser Welt verschrieben. Unermüdlich gab er auf der ganzen Welt – besonders in Bolivien – den Menschen eine Stimme, die sonst gerne im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen werden. Er verhandelte und vermittelte dabei mit den ganz Großen dieser Welt. Dabei sah er selbst das Große immer im Kleinen.

Leo Schwarz. Der Letzte seiner Art. Wer soll diese Lücke füllen? Wer soll so personifiziert wie er den Auftrag wach halten, dass die Kirche sich in erster Linie nicht um irgendeinen inneren strukturellen Scheiß zu kümmern hat, sondern dass das Evangelium gelebt werden muss? Und zwar so radikal, dass ein Bischof wie er viele Jahre als bolivianischer Landpfarrer an der Seite der Menschen lebt.

Der Letzte seiner Art…

Verdammt. Ich muss echt mal schlafen. Die kommenden Tage werden lang.

Ich werde wieder viele Stunden als Nikolaus verkleidet unterwegs sein. Der große Heilige Bischof von Myra, der das Teilen und Schenken so beeindruckend vorlebte, dass wir uns heute noch an ihn erinnern.

Ob die Menschen bei seiner Beerdigung im vierten Jahrhundert auch dachten: Der Letzte seiner Art ist gegangen…?

Ich weiß es nicht. Vorstellbar ist es.

Wenn sie es dachten, hatten sie Unrecht. Es kamen noch viele seiner Art, bekannte wie unbekannte Persönlichkeiten. Einer davon wurde heute beerdigt. Hoffentlich nicht der Letzte seiner Art.

Notiz an mich selbst: Lebe so, arbeite so und verkündige Gott so, dass niemand irgendwann sagen muss: „Es gibt sie einfach nicht mehr, die Letzten ihrer Art“

Schlussstrich ziehen.

Es war nicht so einfach, aber das letzte Jahr habe ich nochmal gelernt Schlussstriche zu ziehen. Manche freiwillig, manche unfreiwillig. Manche unter die Geschichte mit einem Menschen, weil der Tod für einen kurzen Moment über ihr Leben siegte. Manche unter eigene Anforderungen, weil sie mehr lähmten als motivierten.

Manche Schlussstriche unter Sätze, die mir nachgingen. Sätze, die mich lange begleiteten, ohne mir jemals geholfen zu haben. Die mir gerade dann in den Kopf schossen, wenn ich sie am wenigsten brauchte.

Ich habe Schlussstriche gezogen unter Menschen, die Kraft raubten, ohne Halt zu geben. Die immer etwas wollten und ihre eigene Unfähigkeit hinter blumigen Wortgewändern versteckten.

Schlussstriche unter Geschichten, die verletzt haben. Die immer noch verletzen. Wo der Schlussstrich angefangen hat und bis zum Ende des Jahres durchgezogen wird. Ein kleines ToDo bis Weihnachten.

Ertrinkende Menschen schweigen

Letztens habe ich im Radio einen Bericht über die Gefahr von Baden in freien Gewässern gehört. Eindrücklich beschrieb darin ein Rettungsschwimmer, dass viele Menschen eben auch deswegen ertrinken, weil die Umstehenden nicht wissen, wie ertrinken aussieht.

Ertrinkende rufen nicht – wie im Film – um Hilfe oder winken wild mit den Armen. Ertrinkende schweigen und gehen unter. Denn Ertrinken ist eine Erschöpfung. Ein nicht mehr Können. Der Kopf ist unter Wasser. Und wenn die Ertrinkenden es schaffen, das Gesicht über das Wasser zu bekommen, dann müssen sie einatmen, um wichtige Sekunden bis zur ersehnten Rettung zu überbrücken.

Ertrinkende hören nicht mehr auf ihren Namen. Sie können sich nicht mehr bemerkbar machen.

Sie ertrinken ohne ein letztes Wort.

Der Mensch hat keine Stimme mehr, kann niemandem seine Geschichten erzählen, kein Wort geht währenddessen über seine Lippen. Der ertrinkende Mensch schweigt solange, bis jemand die Stimme für ihn findet.

Zeit, die gekommene.

Endspurt – Weihnachtswoche, die Vorfreude steigt auf Weihnachten.
Doch was wäre, würde ich morgen sterben.

Wäre dann alles gesagt, alles getan?
Wären da noch „offene Rechnungen“, ausstehende Entschuldigungen?

In der vorweihnachtlichen Romantik, die sich zwischen den Jahresabschlussstress ergießt, bleibt kaum Platz für dieses Thema.
Doch es ist da, ganz nah. Und das Leben stellt mir diese Fragen, als ich die weiße Decke über die verstorbene Patientin ausbreite.

Was wäre, würde Morgen das Ende sein, und nicht Weihnachten die Ankunft, der Beginn.

Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.

Die Mauern von heute

28 Jahre lang stand auf europäischem Boden eine sehr reale Grenze,  ein Unrecht.
Weithin sichtbar. Real in den Köpfen.
Dieses Unrecht zeriss ein Europa, das zusammenzuwachsen versuchte.
Es verdeutlichte gleichzeitig durch seine Sichtbarkeit und Realität: Bis hier hin und nicht weiter darf gegangen, gedacht, gelebt werden.
Und dann zerbrach das Unrecht mit einem Scheppern und Günther Schabowskis flapsigen Worten: „Das tritt nach meiner Kenntniss… – ist das sofort.

Heute blüht ein Naturschutzgebiet als grünes Band dort, wo Erich Honecker den modernsten Grenzzaun der Welt plante. Und das ehemals zerrissene Europa wankt zwar, aber besonders die sogenannten Jungen – wer auch immer da dazu gehört – leben darin wie selbstverständlich ihre europäischen Freiheitsrechte. Sie, und damit meine ich eben auch mich,  gehen, denken, leben wo und wie sie wollen.

Statt eines trennenden Unrechts scheint vereinende Freiheit Europa zu bestimmen.

Worüber aber keiner spricht:
Diese Freiheiten werden durch Grenzen „gesichert“.
In einer Welt, die zusammenzuwachsen versucht, sind so gut wie alle möglichen Wege nach Europa dicht.

Millionenbeträge werden gezahlt, damit die Jungen und die Armen dieser Welt nicht hier her kommen.
Menschen werden in Lagern gehalten.
Modernste Zäune und Drohnentechnologie wirken wie Erich Honeckers feuchter Traum.
Und werden gerade geplant.
Auch das ist Unrecht. Aber da es mich nicht betrifft, nehme ich es nur sehr schwer wahr.

Welche Worte werden es zum Fall bringen und wer wird sie sprechen?

Angst vor 18:00 Uhr

Da ich nun schon ein paar Jahre in Trier lebe, ist es – leider – alltäglich geworden von römischen Baudenkmälern umgeben zu sein. Wenig achtsam, manchmal ohne sie eines Blickes zu würdigen, passiere ich die Porta Nigra, die Kaiserthermen oder die Konstantinbasilika.

Aber es gibt immer wieder Tage, an denen ich bewusst stehen bleibe.

So auch heute. Seit einigen Minuten stehe ich vor der Konstantinbasilika.

Heute ist vieles anders als sonst.

Ich habe Angst. Genauer gesagt habe ich Angst vor 18:00 Uhr.

Die Konstantinbasilika erinnert mich daran, wie schnell sich die Politik ändern kann. Im dritten Jahrhundert wurden viele Christ*innen von den Römer*innen verfolgt, 313 hat Kaiser Konstantin der Große das sogenannte Mailänder Toleranzedikt unterzeichnet, nur einige Jahrzehnte später wurde das Christentum zur Staatsreligion.

So ist die Konstantinbasilika für mich nicht nur ein Meisterwerk antiker Baukunst. Sie ist auch eine steingewordene Lehrstunde über Politik.

Vielleicht ist mir die Basilika am heutigen Tag deshalb besonders nahe. Ich komme nicht damit klar, wie schnell sich Politik und Gesellschaft manchmal ändern. Vor sechs Jahren habe ich im Geschichtsleistungskurs ungläubig darüber gestaunt, wie rasant sich eine abartige Politik wie die NS-Ideologie in der Breite durchsetzen konnte. Heute muss ich mir um 18:00 Uhr von Bettina Schausten erklären lassen, dass eine Partei in den Bundestag einzieht, deren Spitzenkandidat von „entsorgen“ spricht, wenn er von einem Menschen redet, und die von „Stolz“ reden, wenn sie an die „Leistungen“ der deutschen Soldat*innen in Verdun und Stalingrad denken.

Heute wird mir um 18:00 Uhr ein blauer Balken mit einer Prozentzahl aufzeigen, dass es in Deutschland immer noch rechte Verführer*innen gibt, von denen sich zu viele Menschen verleiten lassen. Heute ab 18:00 Uhr muss ich vielen wunderbaren Menschen und Freunden in Kenia erklären, dass im höchsten Parlament meines Landes eine Partei sitzt, dich sich über „Neger“ und den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ auslässt. Ich könnte im Strahl kotzen! Ich könnte heulen!

Ich fühle mich machtlos. Auch wenn ich den Fernseher um 18 Uhr ausschalte, Bettina Schausten wird trotzdem reden und der blaue Balken wird viel zu hoch ansteigen.

So stehe ich jetzt hier. Ich hasse diese Machtlosigkeit! Ich kann mit diesem Gefühl nicht gut umgehen. Deswegen mache ich der Konstantinbasilika jetzt ein Versprechen. So wie ich mich an die vielen römischen Baudenkmäler in Trier gewöhnt habe und sie nur noch selten richtig wahrnehme, möchte mich nie daran gewöhnen, dass Extremist*innen im Parlament über mein Leben und meine Zukunft entscheiden.

Ich verspreche, Zeuge dafür zu sein, dass ich an Gott glaube, der jeden Menschen gleich geschaffen hat und der die Liebe ist.
Ich verspreche, dass ich für alle Parteien im Deutschen Bundestag beten werde.

Und jetzt gehe ich wählen.

Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!