Die Würde unterhalb der Würde

Neuerdings zähle ich mich ja zu diesen erwachsenen Menschen. Ich habe einen Beruf, ein geregeltes Einkommen, bin verheiratet und überhaupt komme ich mir schon ganz schön weit fortgeschritten auf der „Erwachsenenskala“ vor.

Dazu gehört, dass ich von manchen Dingen Abschied nehme.

Die Risse in der Jeans werden weniger.

Die Zahl der pro Monat verspeisten Tiefkühlpizzen geht zurück.

Die effektiven Arbeitszeiten verschieben sich von der Nacht auf den Tag.

Ich fange an darüber nachzudenken, ob ich im Fußballstadion den Stehplatz nicht gegen den Sitzplatz tauschen sollte.

Bei all dem Erwachsenensein werde ich, wenn ich nicht aufpasse, genau so, wie ich niemals werden wollte.

Nun ist das mit den neuen Jeans, der abwechslungsreicheren Ernährung und den Arbeitszeiten am Tag schon ok.

Nicht ok war für mich ein Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte. Ich sollte mit ein paar Kindern Weihnachtsbaumanhänger basteln. Ich bin eigentlich sehr ungeschickt was das Basteln betrifft, weshalb ich es auch nicht gerne mache. Viel mehr schockiert hat mich aber ein Gefühl, das plötzlich in mir aufstieg und das mir sagte: „Das ist jetzt aber unter meiner Würde“. Es passt nicht zu meinem aktuellen Entwicklungsstand auf der „Erwachsenenskala“ mit Kindern gegen meinen Willen Weihnachtsbaumanhänger zu basteln.

Gott sei Dank haben mich die Kinder aber doch dazu gedrängt, auch einen Anhänger zu basteln.

Heute liegt dieser Anhänger in meiner Wohnung und wartet auf den Weihnachtsbaum, an den er gehängt werden kann.

Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, freue ich mich. Nicht nur darüber, einen selbstgebastelten Weihnachtsbaumanhänger zu haben, sondern Kinder kennengelernt zu haben, die mir geholfen haben zu basteln und etwas Wichtiges gezeigt haben. Da, wo ich auf meiner „Erwachsenenskala“ ein paar Schritte zurückgegangen bin und die von mehr selbst so schrecklich falsch gedachte Würde hinter mir gelassen habe, habe ich etwas entdeckt: Freude, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Offenheit statt Verschlossenheit und Egoismus. Ich habe die Würde unterhalb der „Würde“ entdeckt. Danke!

4 Gedanken zu „Die Würde unterhalb der Würde“

  1. Oh ja, ich habe mir damals auch fest vorgenommen, niemals so erwachsen zu werden, nicht so streng, wie meine Mutter war und mehr offene Ohren für meine Kinder zu haben.
    Aber nun bin ich selbst Mutter von zwei lebhaften Jungs und merke, dass der Alltag bei uns nur mit klaren Regeln, Grenzen und Konsequenzen funktioniert. Und dass ich mit ihren Geschichten über ihre Minecraft Spiele so überhaupt nichts anfangen kann… Oh mann, ich bin doch extrem erwachsen geworden…

    Das gehört zum Eltern sein leider dazu glaube ich. Ich habe gemerkt, dass ich mich durchsetzen muss, mit einer leisen Stimme und einem bitte, erreiche ich meine Jungs nicht.

    Umso mehr freue ich mich auf die Advents und Weihnachtszeit. Auf die Traditionen, die man aus seiner Kindheit übernommen hat und auf die leuchtenden Kinderaugen, die eigentlich nicht mehr wirklich an Nikolaus und das Christkind glauben und wenn der Nikolaus dann im Wohnzimmer vor ihnen Dinge erzählt, die er ja nur vom Himmel aus beocachtet haben kann, dann sind alle Zweifel für ein paar Minuten verschwunden. Mich rühren solche Momente immer zu Tränen. Dieses Gefühl habe ich erst als Mutter hinzu gewonnen. Ich habe meine Freundinnen damals immer belächelt, wenn sie im Kino schluchzenend neben mir saßem. Mittlerweile bin ich auch im Alltag sehr sentimental geworden.

    Zwar hat es mit dem nie erwachsen werden nicht ganz geklappt, daführ bin ich viel mitfühlender geworden.
    Heike

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  2. Der Lektüre Gewinn findet sich so manches mal eher in den Kommentaren. @Heike: Sehr gut nachvollziehbare Schilderungen. @Kathleen: Dieser Eindruck ist hart, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Nun noch eine theologische Ergänzung bzw. Rückwendung meinerseits. Was sagt uns Gottes Kindwerden in Bezug auf Würde? Mir als Mensch ist es sehr unbequem in Situationen der Schwäche, der Verletzlichkeit in Erscheinung zu treten (vgl. Basteln gem. den Schilderungen von M. Michels). Gott jedoch lässt sich selbstlos auf die Welt ein. Er kommt zu uns, nicht in Macht und Würden, sondern als kleines Du. Keine Wertung, keine Verurteilung, sondern Einlassung und Mitteilung von dem, was Würde verleiht. Gott nicht in einem krassen Selbsttest, sondern als Mensch unter Menschen. D. h. ER möchte sein wie wir und lässt sich tatsächlich völlig ohne Vorbehalte auf uns und unser Dasein ein. Das adelt den Menschen. Für mich die evidente Relation zur hiesigen Verfassung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie wird in dem Moment unantastbar, wo sie dem Menschen letztlich unveräußerlich entzogen ist, nämlich in der Ebenbildlichkeit Gottes.

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