Noch einmal würde ich…

Und da ist er wieder, der Advent.

Auch wenn ich mich dem allgemeinen Weihnachtsstress nicht entziehen kann, genieße ich diese Zeit doch sehr.

Aber leider fehlt mir etwas sehr Entscheidendes und es fehlt bereits seit 14 Jahren. Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal den Advent und Weihnachten ohne meine Oma verbracht. Sie ist zwei Monate vorher mit fast 91 Jahren gestorben und dieses Jahr muss ich besonders oft an sie denken.

Meine Oma war die beste Oma der Welt. Punkt.

Wenn ich bei ihr war, gab es nichts, was mir gefehlt hätte. Sie war die Geduld in Person, sie hat nie geklagt, nie gejammert, nie geschimpft und nie über andere Menschen schlecht geredet. Schon gar nicht über mich.

Sie gab mir stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einfach nur, weil ich ich war.

Diese Frau, die 1912 geboren wurde, beide Weltkriege erlebt, einen Bruder an einen der Kriege, zwei ihrer Kinder an die mangelnde medizinische Versorgung der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihren Mann schließlich an Krebs verloren hat. Diese Frau, die selbst die letzten 14 Jahre ihres Lebens schwer krank war, hat immer gelächelt, wenn sie mich angesehen hat.

In ihrer Nähe fühlte ich mich immer vollständig angenommen.

Mittlerweile ahne ich, dass nicht viele Menschen einem im Laufe eines Lebens ein solches Gefühl vermitteln.

Ich weiß, sie könnte heute gar nicht mehr leben. Sie wäre 105 Jahre alt. Und doch stelle ich es mir gerne vor, wie es wäre, wenn sie nur diesen Advent und diese Weihnachtszeit noch einmal mit uns verbringen könnte.

Noch einmal würde ich einen ganzen Nachmittag bei ihr im Wohnzimmer sitzen und wir würden gemeinsam stricken.

Noch einmal würden wir an einem Adventssonntag alle drei „Sissi“-Filme schauen und es würde nach frischem Kuchen und Filterkaffee riechen.

Noch einmal würden wir nach der Christmette alle gemeinsam Weihnachtslieder singen und mein Bruder und ich würden noch einmal darüber kichern, dass sie kaum einen richtigen Ton mehr trifft.

Noch einmal würde ich ihren Geschichten aus vergangenen Tagen lauschen und den Glanz in ihren Augen sehen, wenn sie von all den Menschen erzählt, die schon so lange nicht mehr da sind.

Und dieses Mal würde ich ihr, bevor sie geht, wirklich sagen, wie viel sie mir bedeutet hat.

Meine Helden sterben nie

Ein kleiner Satz – von meiner Schwester an mich gesendet – leuchtet auf dem Handydisplay: „Oma ist eingeschlafen.“ Klar, irgendwann musste es passieren und überraschend war es jetzt auch nicht. Und auch als ich Irgendwann 2017  las, dachte ich mir: Natürlich! Irgendwann wird mal irgendjemand in 2017 sterben müssen. So ist das Leben. Irgendjemand! Aber nicht meine Oma, meine Heldin.

Denn Held*innen sterben nicht.

Sie verlieren mal. Haben oft ausweglose Situationen, aber sterben? Nicht meine Held*innen!

Plötzlich schießt alles durch den Kopf. All das, was unvergessen bleibt: Zum Beispiel ihr Mohnkuchen, der (Ich übertreibe nicht!) beste Kuchen der Welt. So gut, dass er jedes Fest meines Lebens und die Feste meiner Geschwister begleitet hat.

Meine Oma hat SWR 4 erst zu einem Omasender gemacht. Hat mich gelehrt welche Vorteile es hat, alles zu sammeln; man weiß ja nie, wann man es mal braucht. Mit meiner Oma waren lange Autofahrten immer ein Event. Durchfahren gab es nicht! Eine Rast mit mitgebrachter Brotzeit musste schon sein.

All das bleibt. All das und die Gewissheit: Meine Held*innen sterben nie!

Brot zum Geburtstag

Es ist wieder soweit: Die Oma hat Geburtstag!

Schnell noch den Magen dehnen, damit ich mir keine lästigen Nachfragen über mein Essverhalten gefallen lassen muss und mit den Geschwistern überlegen, welche alten und schon tausendmal gehörten Geschichten an diesem Geburtstag wieder aufgetischt werden. Und jedesmal die gleiche Frage: Was schenkt man* der Oma zum Geburtstag?

Eine verdammt schwierige Frage, die sich allen Verwandten Jahr für Jahr stellt. Am Ende läuft es ja meist doch auf einen Blumenstrauß, einen Deko-Artikel oder einen Gutschein für ein Essen mit der Familie hinaus.

Im Nachhinein betrachtet waren wir alle mal wieder sehr einfallslos. Denn das vielleicht schönste Geschenk und damit einen ganz besonderen Geburtstag hat meine Oma von einem älteren Herrn aus dem Nachbarort bekommen: Er schenkte ihr Brot.

Nun mag man gerade in der Eifel, in der es Gott sei Dank noch viele traditionelle Bäckereien gibt, denken: Okay, Brot? Gibt es doch an jeder Ecke!

Doch die Geschichte hinter dem Brot ist etwas Besonderes: Der ältere Herr ist seit kurzem im Ruhestand und hat seine Bäckerei, die er von seinem Vater übernommen hatte, damit auch geschlossen.

Auch hier mag man nun wieder denken: Okay, Bäckereien kommen und gehen.

Aber erst an diesem Geburtstag wurde mir bewusst, was dieses Brot meiner Oma bedeutet hat. So hat sie in ihrem Leben nie ein anderes Brot als aus besagter Bäckerei gegessen. Sie liebte dieses Brot so sehr, dass sie aus lauter Verzweiflung kurzerhand die Kühltruhe ausgeräumt und noch möglichst viel Brot eingefroren hatte.

Und nun hatte der der alte Bäckermeister aus dem Nachbarort für ihren Geburtstag nochmals den Ofen angeworfen und meiner Oma „ihr“ gutes Brot gebacken.

Ich muss zugeben, das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Nicht nur über unsere Wegwerfgesellschaft, diese ganzen Discount-Bäckereien und Aufbackbrötchen (an denen ich mich selbst auch regelmäßig bediene) und die Frage, ob ich eine solche Treue zu einem Geschäft aufbringen könnte, wenn ich doch am liebsten den kürzesten und einfachsten Weg zu einem Supermarkt aufsuche… Geschenkt!

Wirklich ins Grübeln kam ich etwas später, als meine Oma sagte: „De Heerr hätt sich jett jedacht, dat hän sesch ohs im Bruht schenkt.“ (Übersetzung: „Der Herr hat sich etwas gedacht, dass er sich uns im Brot schenkt.“)

Dann tat sie etwas, dass sie seit über 70 Jahren mit jedem Laib Brot machte: Bevor sie ihn anschnitt, segnete sie das Brot in dem sie mit dem Brotmesser ein Kreuz auf die Unterseite des Laibes zeichnete, und verteilte das Brot anschließend an die ganze Familie. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie schön das ist.

Von Sonnenblumen und Kratzern

Ich sitze in meinem kleinen grauen Auto und bin auf dem Weg zu meiner Oma. Es ist schon eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich sie besucht habe, es ist ja auch ein langer Weg bis zu ihr.

Der Innenraum meines Autos wird endlich langsam warm. Es ist noch sehr früh am Morgen, die Sonne erwacht nur träge aus ihrem Schlaf. Meine Oma hat – typisch Großeltern – das Essen immer pünktlich um 12.00 Uhr auf dem Tisch stehen, deshalb bin ich schon so früh unterwegs.

Plötzlich fällt mir ein: Ich hab vergessen eine Kleinigkeit als Mitbringsel zu besorgen. So ein Mist!

Der kleine Stoff-Wal – Willy heißt er –, der an meinem Spiegel hängt und mich schon mein ganzes Autofahrleben begleitet, sieht mich vorwurfsvoll an. Nicht nur wegen des vergessenen Mitbringsels, sondern auch wegen meiner schlechten Laune. Ja es ist so, ich habe keine Lust auf diesen Tag!

Gerade möchte ich mich vor Willy für meine fehlende Motivation rechtfertigen („Es ist kalt, es ist früh, ich bin müde, die Landstraße hat lauter Schlaglöcher, ich war nicht immer die beste Enkelin für meine Oma…“), da lächeln mich auf einmal tausend freundliche Sonnenblumengesichter von einem Acker aus an. Die Sonne geht gerade hinter dem Sonnenblumenfeld auf, ein tolles goldfarbenes Bild. Genau das ist es, was ich meiner Oma als Geschenk mitbringen möchte.

Ich setze den Blinker und biege in einen kleinen Feldweg ein. Natürlich ist er feucht und schlammig, mein Auto seufzt, ergibt sich aber geduldig seinem Schicksal. Irgendwo in den Tiefen meines Handschuhfaches finde ich ein Taschenmesser und erinnere mich, dass ich als Kind oft mit meiner Oma in den Wald gegangen bin und Stöcke zu Wanderstöcken geschnitzt habe. Eine schöne Erinnerung. Das war noch, bevor es zwischen uns schwierig wurde…

Als ich die Tür öffne, kommt mir die herbstlich frische, kalte Morgenluft entgegen und meine Müdigkeit verfliegt. Ich marschiere querfeldein über die von Morgentau bedeckte Wiese, um auf den Sonnenblumenacker zu gelangen. Die Sonnenblumen begrüßen mich freundlich, indem sie mit ihren großen grünen, vom Wind getragenen, Blättern winken. Eine von ihnen lacht besonders herzlich. Genau die ist es, die kommt mit!

Auf dem Rückweg zum Auto scheinen mir die ersten Sonnenstrahlen auf den Rücken. Es fühlt sich wie eine warme Umarmung an. Ich fühle mich gut.

Wieder im Auto angekommen ärgere ich mich. An meinen Schuhen kleben nasses Gras und Matsch vom Acker. Und ein großer Kratzer! Das auch noch, dabei sind die Schuhe erst neu. Was für ein blöder Einfall anzuhalten, das war es nicht wert!

Über eine Stunde später stehe ich mit dreckigen und zerkratzten Schuhen vor der Haustür meiner Oma, in der rechten Hand die Sonnenblume, die mein zaghaftes Lächeln mit ihrem bei Weitem überstrahlt. Ich bin immer noch sauer über die Spontanaktion.

Meine Oma öffnet die Tür und strahlt mit der Blume um die Wette: Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Was für eine schöne Sonnenblume, die stell ich mir direkt auf den Tisch und wenn ich sie sehe, dann denke ich an dich!

Dann drückt sie mich. Die Umarmung fühlt sich genauso warm und sonnig an, wie heute Morgen auf dem Feld. Das war es doch wert!, denke ich mir, während ich auf den Kratzer schaue und mich endlich vom Lächeln der Sonnenblume anstecken lasse.